Klar sehen und doch hoffen
ich letztlich der STASI zu verdanken.
Der zweite Teil der Geschichte spielt ein halbes Jahr später. Diesmal hatte die Kulturverantwortliche der Klasse eine Geschenkidee für den »Offi«.
Er sollte zum Abiturball eine goldene Kralle bekommen, denn es war seine Art, sich bei jedem Lehrer einzukratzen. Damals hielt ich mich zurück, da ich vorausahnte, dass dieses Geschenk den »Offi« nun wahrlich persönlich treffen würde.
Auf dem Ball wurde feierlich mit Sekt angestoßen, die Kralle überreicht, Fotos geschossen. Ich tanzte unterdessen und stieß nicht an, überreichte nicht, sah nicht das Gesicht des »Offi«, amüsierte mich nicht, war nicht auf den Fotos.
Am nächsten Morgen stand die Kriminalpolizei bei dem Stellvertreter des FDJ-Sekretärs, bei der Kulturverantwortlichen, beim Agitator und bei der Zeitungsverantwortlichen vor der Tür. Der schon ins Ferienlager gereiste FDJ-Sekretär wurde zurückbeordert. So wurden alle als Zeugen verhört, die Fotos beschlagnahmt. Anzeige gegen Unbekannt. Gesucht wurde der Staatsfeind. Mein Name wurde suggeriert. Als die Kripo nicht herausbekam, dass der Staatsfeind für dieKralle verantwortlich war, hatte sich das Verfahren erübrigt und wurde eingestellt.
Drei Monate später begann sich das Land aufzulösen. Die Staatsfeinde von einst machten die Funktionäre, Direktoren, Agitatoren zu heutigen Staatsfeinden. Die Karriere des Offiziersbewerbers in der Nationalen Volksarmee des ehemaligen Landes endete auf einem Fußballfeld, nahe der entschärften Grenze, wo seine Einheit sich gegen eine der Bundeswehr im Spiel versuchte, und er wurde Offizier der neuen Armee.
SCHWERTER ZU PFLUGSCHAREN! FEINDE ZU PARTNERN!
Für Symbole habe ich viel übrig – für Symbolisches und für Symbolhandlungen. Auf dem Schreibtisch meines Vaters lag als Bleistiftanspitzer ein Skalpell, mit dem er als Sanitäter (!) im Krieg auch selber operiert hatte. Ein Messingbecher mit eingeritztem Kreuz diente ihm als Füller- und Bleistiftbehälter. Er erzählte mir die Geschichte des Seziermessers und von dem allen, was er im sogenannten Russlandfeldzug an Schrecklichem erlebt und durchlitten hatte. Und er erzählte mir von dem Becher, der aus dem Messing einer Granatenhülse von Mitgefangenen gefertigt worden war.
Ich bat ihn, mir beides zu überlassen. Da war ich 16. Warum? Weil seine Kameraden in amerikanischer Kriegsgefangenschaft ihm diesen Abendmahlsbecher hergestellt hatten, dazu aus Abfallholz ein Kreuz und zwei Kerzenleuchter für seine Abendmahlsfeiern im Camp. Das waren die einzigen Dinge, die er mitgebracht hatte aus jener Zeit und eben jenes Skalpell.
So habe ich das Abendmahl immer verstanden: als ein Friedensfest, als ein Versöhnungsmahl, als einen sinnlich erfahrbarenVorgeschmack von Gerechtigkeit und innerster Verständigung aller Einzelnen, die doch so fern voneinander wohnen.
Die Studenten in Halle schenkten mir zum Abschied eine zu diesem Becher gefertigte Karaffe. Ein bei uns im Konvikt wohnender Student hatte die Innenwand des Bechers mit einer dünnen Zinnschicht belegt, damit der Wein darin nicht mehr oxidiert.
Seit den 80er-Jahren nannte man das »Konversion«, jene Umwandlung und Umwidmung des Kriegerischen ins Friedliche, des Zerstörerischen ins Aufbauende. Ich habe den Becher in meiner Studentengemeinde in Merseburg bei Agapefeiern benutzt, später auch in unserer Friedensgruppe, besonders bei Begegnungen mit der Friedensgruppe aus Westberlin.
1993 schickte mir der ehemalige Soldat Arno Widmann aus der Nähe von Nürnberg einen Spaten, der aus dem Mantel einer verschrotteten Mittelstreckenatomrakete – aus Titan! – hergestellt worden war …
Arno Widmann hatte seit Gorbatschows Machtantritt seine Versöhnungsarbeit mit der Sowjetunion aufgebaut, direkt zu den Menschen auf dem flachen Lande, in den Weiten Russlands – nicht zuletzt aus Dankbarkeit für die russischen Mütter, die ihn und andere deutsche Kriegsgefangene vor dem Verhungern bewahrt hatten. Er hatte diese beeindruckende Menschlichkeit nach allem, was Deutsche dort angerichtet und hinterlassen hatten, nie vergessen.
Eine Erkenntnis war in mir in mehreren Jahrzehnten zu einer Überzeugung gereift: Frieden gibt es nur dauerhaft als Frieden mit dem Gegner. Der Sieg-Frieden birgt das Potential für den nächsten Krieg. Aber mit einem Gegner, der dem Humanen unzugänglich ist, der despotisch-verbrecherisch wirkt wie Adolf Hitler, gibt es keinen Frieden, sondern nur gemeinsamen Einsatz aller Kräfte,
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