Klar sehen und doch hoffen
Menschenkette derer gestellt, die den Rechtsradikalen ihre Stadt nicht überlassen wollten. Diesmal ging es ohne Gewalt ab – nicht zuletzt, weil sich die Nazigegner zu gemeinsamen und friedfertigen Aktionen zusammengefunden hatten.
Nachdem ich Ende der 80er-Jahre Andrej Tarkowskis Film »Stalker« gesehen hatte, der apokalyptisch eine atomar verseuchte Zone vorzeichnete, sowie einen Doku-Film über Nagasaki nach der Zerstörung, hat mich der Fluch der Radioaktivität entsetzt, gelähmt und dann auch motiviert, das wenige mir Mögliche unverdrossen zu tun, z. B. an der »Sprachfront«. Wie bezeichnen wir angemessen, was uns droht? Günther Anders sprach angesichts von Hiroshima nicht mehr vom »Krieg«, sondern vom »Untergang« – also auch von Untergangsdienst und Untergangsdienstverweigerung. 28 Was geschehen wäre, wenn die Interkontinentalraketen wirklich eingesetzt worden wären oder ein U-Boot versehentlich einen atombestückten Torpedo abgeschossen hätte, überstieg unser aller Vorstellungsvermögen.
Trotz der vielen Kriege seither sind wir vorm Schrecklichsten bewahrt worden. Wir sind antiquierte Menschen, meinte Günther Anders, die den Mitteln, die sie selber geschaffen haben, nicht gewachsen sind. Das Überlegenheitsgehabe sowieindividueller oder kollektiver Hass sind jeden Tag reaktivierbar. Man male sich nur aus, Terroristen würden in den Besitz von Plutonium kommen.
Die Frage, ob auch ich in einen barbarischen Sog geraten könnte, wenn ich in einen Kampf um Leben und Tod verwickelt würde, ob ich dann Befehle ausführen würde, die ich als zivilisierter Mensch kaum für möglich halte, ist mir zu einem Gewissensstachel geworden. Die Frage an Kain »Wo ist dein Bruder Abel?«, dessen verfinsterter Blick, das In-sich-Gekrümmtsein vor dem Brudermord, seine zynische Abweisung jeglicher Verantwortung mit der Gegenfrage »Soll ich meines Bruders Hüter sein?« geht mir nicht aus dem Sinn. (Genesis 4,1–16) Die der lebensbedrohlichen Verfolgung 1932 gerade noch entronnene jüdische Deutsche Hilde Domin hat in ihrem Gedicht »Abel, steh auf« einen für das Mitmensch-Bleiben wichtigen Imperativ formuliert. »Ja, ich soll meines Bruders Hüter sein.«
DIE ABITURIENTIN, DER SPIELPANZER UND DIE HUMORLOSIGKEIT DES SYSTEMS
Meine Tochter Uta erinnert sich an ihre Schule 1989:
Es war einmal ein Land, in dem es neben der weitverbreiteten Begabung des Zwischen-den-Zeilen-Gelächters viel Humorlosigkeit gab. Totalitäres Denken paarte sich mit Verbissenheit. Die Wahrheit mit Parteibuch und Stielkamm in der Wisentjeans stecken zu haben, verlieh einem Teil der Bewohner des Landes die Sicherheit, ungefragt Recht zu haben. Humorlosigkeit gebiert Absurdität, die im Theater amüsant erfrischend und zum Denken anregend sein kann. Im Leben türmt sie sich auf zu einer unüberwindbaren Mauer aus Sinnlosigkeit, banalem Mief und schizophrenen, immer phantasieloseren Ausreden.
In diesem Land begab sich aber folgende Geschichte: In einer Klasse der Erweiterten Oberschule einer mittelmäßigen Kleinstadt sollte eine Weihnachtsfeier stattfinden. Dabei sollten wie üblich Wichtelgeschenke ausgetauscht werden. Jeder zog ein Los mit dem Namen der zu beschenkenden Person. Es war das Land, in dem Erich Honecker Landpfleger war.
Eine Schulklasse in jenem Land war ein Versuchslabor für die Gesellschaft. Sozialistische Persönlichkeiten wurden aufgezogen. Oberste Instanz war der Sekretär der Freien Deutschen Jugend, kurz FDJ, der zugleich Klassensprecher war, beide Funktionen waren deckungsgleich. Neben dem FDJ-Sekretär gab es einen Stellvertreter des FDJ-Sekretärs, einen Agitator für kollektive Meinungsbildung, einen Kultur- und einen Wandzeitungsverantwortlichen sowie einen Kassierer der FDJ-Mitgliedsbeiträge, à 0,25 Mark der DDR im Monat. Alljährlich wurden für diese FDJ-Leitungsposten Vertreter, nach geheimem Wahlvorschlag, aber in öffentlicher Abstimmung, durch Fingerheben gewählt. Nur die Dissidenten, die man in den Akten dieses Landes Staatsfeinde nannte, wurden nicht gewählt und konnten nicht wählen. Es gab sie auch nicht überall. Dafür waren in jeder Klasse mindestens zwei Offiziersbewerber, verächtlich »Offis« genannt. Traten sie doch recht selten mit sprühender Intelligenz hervor und bestätigten allzu oft das Vorurteil, nur wegen ihrer Bewerbung zu fünfundzwanzig Jahren NVA zum Abitur zugelassen worden zu sein. Einen solchen »Offi« gab es auch in jener Klasse, in der sich unsere Geschichte
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