Klar sehen und doch hoffen
liturgisch oder gruppendynamischspielerisch eingeübt worden war, sollte sich im Jahre 1989 bei der spontanen Gestaltung einer friedlichen Revolution als unabdingbar erweisen. Keiner konnte das ahnen. Waren es zunächst wenige, die den Mund aufmachten, so kamen seit Ende September bislang geduckte Bürger überraschenderweise in Mengen dazu. Überall traten in jenen dramatischen Wochen von Ende September bis Anfang November Mitglieder von Friedensgruppen an die Spitze der Demokratie-Bewegung. Frieden und Menschenrechte gehörten für uns eng zusammen. Wir wollten keinen »Friedhofs-Frieden«, sondern die freie Assoziation freier Individuen, die mit anderen (europäischen) Völkern Frieden mit Mitteln des Friedens gestalten. Die Akteure aus den Friedensgruppen sowie viele der kirchlichen Mitarbeiter waren es, die den Puffer bildeten, wenn der Konflikt zwischen Staatsmacht und Volksmassen in der friedlichen Oktoberrevolution zu eskalieren drohte.
Nach dem China-Massaker und der Depression des Sommers wurde im Herbst 89 aus Wut unglaublicher Mut. » Wir sind das Volk« und »Keine Gewalt« wurden die entscheidenden, überall nicht nur gerufenen, sondern auch praktizierten Parolen. Das System setzte seine Machtmittel nicht mehr ein. Niemand verlor die Nerven. Der Übergang von der Diktatur in die Demokratie erfolgte weitgehend sehr zivilisiert. Der8. Oktober in Dresden und der 9. Oktober in Leipzig sind die Fanale einer friedlichen Oktoberrevolution geworden, die mittelbar und unmittelbar mit der Bewegung »Schwerter zu Pflugscharen« zu tun hat.
Welch heiter-geistreiche Delegitimation der Mächtigen am 4. November 1989. Der vor mehr als 500 000 Menschen am Alex aus- und heruntergepfiffene Schabowski ermunterte fünf Tage später ungewollt die DDR-Bürger, nächtens spontan an die unüberwindliche Grenze zu strömen. An der Bornholmer Straße in Berlin kam Grenz- und Stasioffizier Harald Jäger – resignierend oder einsichtig? – nicht seiner Pflicht nach, »die Grenze mit allen Mitteln zu sichern« und das Volk mit Waffengewalt auseinanderzutreiben. Schließlich hatte die friedliche Revolution wohl auch Machthaber und Sicherheitskräfte erreicht. Jäger prägte den denkwürdigen Satz: »Jetzt fluten wir.« Was wäre geworden, wenn er stattdessen befohlen hätte: »Jetzt schießen wir«?
Am 12. September 89 hatte ich in Magdeburg an einer Sitzung zu Fragen »kirchlicher Verantwortung für Demonstrationen«, mit allem, was nach China im Juni 89 zur Debatte stand, teilgenommen. Als ich mit meinem roten Wartburg wieder nach Hause fuhr, glich die Stadt unterhalb des Domes Wallensteins Lager, eine unübersehbare Zahl von Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei und Panzerspähwagen standen bereit. Im Dom zu Magdeburg hat man vor dem 7. Oktober, dem von Honecker so sehnlich erwarteten Ereignis »40 Jahre DDR«, ein 40 cm langes grünes Band der Hoffnung an alle Besucher ausgegeben. 40 Jahre sind genug!
Die großen Kirchenräume, insbesondere der Evangelischen Kirche, wurden zu Räumen der Volksversammlungen, in denen die Menschen das offene Wort übten. Und es war nach 40 Jahren Schweigezeit erstaunlich, dass sie es konnten, mit so viel Besonnenheit, so viel Entschiedenheit, mit so vielZivilcourage. Das hing sicher mit dem Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zusammen, an dem sich Tausende in der DDR beteiligt hatten. Dialog und Toleranz sollten unverzichtbare Grundsätze werden. In den Schlussdokumenten zur Versammlung der konziliaren Gruppen am 30. April 89 in Dresden wurde feierlich erklärt, dazu gehöre der »Abbau von Feindbildern in der Erziehung und Ausbildung, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, die Befähigung zu friedlicher Konfliktlösung, umfassende Friedenserziehung im Sinne des Neuen Denkens in den Erziehungseinrichtungen und die Abschaffung des Wehrunterrichtes an den Schulen, die Entfernung militärverherrlichender Inhalte und der Tendenzen zur Feindschafts- und Hasserziehung«.
Unsere Welt hatte bis 1989 in akuter Atomkriegsangst gelebt. Ich erinnere mich genau daran, dass im März 89 im Atombunker bei Bad Kreuznach ein Ersatzkabinett unter Staatssekretär Schreckenberger die Atomkriegssituation simuliert hatte, die gigantische Abhöranlage auf dem Brocken bis nach England reichte, die Vorwarnzeiten von Mittelstreckenraketen sich auf wenige Minuten reduziert hatten.
Es kam nicht zur Katastrophe, sondern zu einem gewaltig-gewaltlosen Aufbruch und Ausbruch
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