Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
Vom Netzwerk:
»Für ein neues Europa« verabschiedet wurde, war ich beglückt, dass es in so kurzer Zeit – seit Gorbatschows Machtantritt im Februar 1985 – zu einer gesamteuropäischen Deklaration über Demokratie, Frieden und Zusammenarbeit gekommen war. Die 40-jährige Teilung Europas mit Kaltem Krieg und weltbedrohender gegenseitiger Hochrüstung mit ABC-Waffen war zu Ende. Ein Zeitfenster für die Friedensdividende in Europa und für die Welt schien offen.
    Russland war Teil der europäischen Friedensordnung und sollte auch Teil der freiheitlichen, sozialstaatlichen, auf Rechtsprinzipien beruhenden Verfassung Europas werden. Alles ging mit atemberaubendem Tempo vor sich. Auch die Bürgerkriege in Angola, in Mozambique und in Simbabwe gingen zu Ende, und die Welt schien einen friedlicheren Weg zu finden.
    Wie hatte ich mich getäuscht. Die Hochrüstung der Vereinigten Staaten war unvermindert weitergegangen. Der Transformationsprozess in der Sowjetunion gelang nicht. Die Wirtschaft zerfiel. Renten und Löhne wurden nicht fristgerecht gezahlt. Es kam zu Engpässen in der Versorgung der Bevölkerung. Ich erlebte es im Mai 1990 in Leningrad, als ich im Auftrag der Zeitschrift »Sinn und Form« den Schriftsteller und Deputierten Daniil Granin besuchte. 29 Ein Blick in einen Gemüseladen genügte. Die Menschen stilisierten Jelzin geradezu zu einem Heilsbringer, Gorbatschow warf man Verratan der Sowjetunion vor. Jelzin baute sich als der Protegé des Westens auf. Er wurde als großer Gegenspieler Gorbatschows zum Präsidenten Russlands gewählt.
    Die hoffnungsvollen Vorzeichen verkehrten sich auch anderswo ins Gegenteil: der Zerfall Jugoslawiens 1990, beschleunigt durch die Anerkennung Kroatiens durch die Bundesrepublik im Dezember 1991; der sogenannte zweite Golfkrieg an der Jahreswende 1990/91, ein erstes Indiz dafür, dass wir zwar die Ost-West-Konfrontation mit gegenseitig gesicherter Vernichtungsmöglichkeit überwunden hatten, aber nun neue Kriege kamen. Die unverhohlenen, unilateralen Hegemonialinteressen der einzig verbliebenen Supermacht, ihre Gier nach Ölquellen und anderen Ressourcen machten mir Angst.
    Zwischen 1980 und 88 hatte der Westen Saddam Hussein aufgerüstet und gegen den Iran in Stellung gebracht. Der erste Golfkrieg endete mit furchtbaren Verlusten ohne Sieger. Der zweite begann mit dem Überfall der Truppen des irakischen Diktators in Kuwait. Die Amerikaner intervenierten. Vor der Weltöffentlichkeit legitimierten sie ihren Angriff auf den Irak durch Lügen über Verbrechen der irakischen Soldateska und andere Desinformationen. Diese Strategie setzten sie im dritten Golfkrieg fort. Das Zeitalter der sogenannten neuen Kriege (Herfried Münkler) hatte begonnen.
    Ich habe den ohnmächtigen Widerstand in dieser Zeit erlebt, mich aber nicht resigniert zurückgezogen. Frieden mit dem Feind zu machen bleibt immer ein Risiko, meine Friedenspreisrede vom 10. Oktober 1993 trug die Überschrift: »Den Frieden riskieren« 30 . Und zur Berliner Messe von Arvo Pärt habe ich 1995 im Straßburger Münster meine Vision von Europa, das aus der Geschichte gelernt und sich dem Frieden und den Menschenrechten verschrieben hat, vorgetragen.
    Propagandalügen und nationalistisch motivierte Verbrechenwaren auch im Kosovokrieg schwer voneinander zu trennen. In der »Leipziger Volkszeitung« schrieb ich am 23. März 1999: »Wen rühren die schrecklichen Bilder verzweifelter alter Frauen und weinender Kinder in den Flüchtlingstrecks aus dem Kosovo nicht an? Wen erschrickt nicht der Terror der serbischen ›Polizei‹ gegen alles, was albanisch ist, und auch der Terror der UÇK-Kämpfer gegen alles, was serbisch ist? Haben nicht auch albanische Nationalisten die NATO für ihre Unabhängigkeitsbestrebungen instrumentalisiert und keine Gelegenheit ausgelassen, dafür die bekannte serbische Brutalität bewusst in Kauf zu nehmen? Wem geht es eigentlich dort noch um die Zivilbevölkerung? Leid wurde längst zum zynischen Propagandazweck. Wer mit Gewalt eine Waffenruhe herbeiführen will, braucht Partner, die nicht weiter auf Gewalt setzen.«
    Der ehemalige OSZE-General Heinz Loquai machte uns in Wittenberg deutlich, wie es schließlich zum Bombardement Belgrads und anderer Städte gekommen war und welche offensichtlichen Lügen zur Rechtfertigung benutzt wurden. Ich hatte immer gedacht, so primitiv würden nur die Kommunisten lügen.
    Die Mehrheit der Ostdeutschen war 1999 gegen den Krieg gewesen. Aus westlichen Zeitungen vernahm ich,

Weitere Kostenlose Bücher