Klar sehen und doch hoffen
sie sollten sich schämen, sie seien noch nicht demokratiefähig. Aber aus meiner Sicht war der tiefere Grund für die Ablehnung von Krieg darin zu sehen, dass Ostdeutsche die Teilungsstrafe 40 Jahre lang in besonderer Weise abzutragen hatten, die Kriegsfolgen länger und intensiver gespürt hatten – einschließlich der jahrelangen außerordentlich belastenden Besatzung durch die Sowjetarmee. Und die Ostdeutschen hatten gelernt, in den 40 Jahren, in denen sie mit Propaganda gefüttert worden waren, doch über Radio und Fernsehen in die Lage versetzt worden waren, jeweils beide Seiten wahrzunehmen.Das schulte ein kritisches Unterscheidungsvermögen. Unabhängig von der instrumentalisierten Friedenspropaganda war vielen Ostbürgern Brechts Gedicht »Bitten der Kinder« nahegegangen:
Die Häuser sollen nicht brennen.
Bomber sollt man nicht kennen.
Die Nacht soll für den Schlaf sein.
Leben soll keine Straf sein. 31
Persönlich hatte ich nicht nur die Bergpredigt und die großen Friedensvisionen der Propheten gewissermaßen internalisiert, sondern auch Brechts »An Meine Landsleute«, wo es hieß:
Zieht nun in neue Kriege nicht, ihr Armen.
Als ob die Alten nicht gelanget hätten. 32
So konnte ich auch den Weg, den die Amerikaner im »New War« gegen den Terrorismus gingen, nicht teilen, was auch zu Differenzen mit meinem langjährigen Freund und damaligen Ministerpräsidenten meines Landes führte, dem ich einen offenen Brief schrieb.
Als die Amerikaner anfingen, die Welt auf einen Krieg gegen den Irak einzustimmen, habe ich zusammen mit Christian Führer aus Leipzig zu Weihnachten 2002 einen Aufruf veröffentlicht unter der Überschrift: »Nicht in unserem Namen! Kein Krieg gegen den Irak«. Darin hieß es: »Sagen und singen wir laut ›Friede auf Erden – Ehre sei Gott in der Höhe!‹, damit der Friede auf Erden an Boden gewinnt und wir alle am Leben bleiben!
Keinen Krieg vom Zaun brechen, Präsident George W. Bush!
Kein Waffenversteckspiel, Saddam Hussein!
Weiter alles für friedliche Lösungen einsetzen, Kofi Annan!
Dieser Krieg – nicht in unserem Namen, nicht mit unserer Hilfe, Kanzler Gerhard Schröder!
Gegen Gewalt und Angst, gegen Propaganda und Lügen, gegen die Militarisierung des Denkens und Handelns aufstehen. Im Lichtschein einer Kerze, im Lichtermeer vieler Kerzen riefen wir ›Keine Gewalt!‹. Und so rufen wir heute zu Weihnachten 2002: ›Keinen Krieg!‹ Die Weihnachtsbotschaft muss heraus – vor die Kirchen, auf die Straßen und Plätze, in die Entscheidungszentralen der Politik.«
Ich habe als Vertreter der ost-west-christlichen Friedensbewegung am 15. Februar 2003 vor 500 000 Menschen an der Straße des 17. Juni gegen diesen Krieg gesprochen, kurz vor diesem Krieg. Den öffentlich-rechtlichen Medien war es nur eine kurze Meldung wert, obwohl sich in diesen Tagen eine internationale Antikriegsbewegung von New York über Paris, Berlin, Neu-Delhi und Sidney herausgebildet hatte. Der Krieg George Bushs endete, wie wir wissen, in einem Desaster. Anfang 2012 hat fast der Letzte eingesehen, dass nichts gut ist in Afghanistan und der Aussöhnungsprozess gescheitert ist. Eine Mehrheit der Afghanen sieht die westlichen Soldaten nicht als Helfer. Sie werden als Besatzer empfunden. Es wird überdeutlich: Der Krieg entlarvt sich selber. Er verliert immer mehr seine zivilisatorische Hülle. Er tötet Soldaten wie Zivilisten. Wo jegliche Empfindungsfähigkeit verloren geht oder systematisch abtrainiert wird, zeigt er seine menschenverachtende Fratze. So ist Krieg, mag man sagen, wenn man sich an die Quälorgien in Gefängnissen oder das lustvolle Abballern von Leuten im Irak erinnert oder an den Amoklauf eines amerikanischen Soldaten, der sechzehn Zivilisten völlig grundlos erschossen hat. Welche Langzeitfolgen werden jene Kollateralschäden, wo man »irrtümlich« ganze Hochzeitsgesellschaften auslöschte, haben? Der Krieg wird 2014 mit dem Abzug der westlichen Truppen nicht zu Ende sein. Er wird in eine neue Phase treten, die noch unübersehbar ist.
Wohin werden die neuen Kriege führen? Die Kriege um Ressourcen, um das Öl, aber auch um seltene Erden und um Wasser und Lebenschancen? Und in welcher internationalen Rechtsordnung sollen sich militärische Einsätze bewegen? Muss nicht alle Kraft darauf verwandt werden, die UN zu stärken und damit auch das Völkerrecht? Wie kann man den Dunkelmännern und den Konzernen, den Kumpanen der Warlords, die kalt berechnend im Hintergrund agieren,
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