Klassentreffen
du, es kommt mir so merkwürdig vor, dass ich das anscheinend alles vergessen wollte. Mir fällt nur eine einzige Erklärung dafür ein: Der Täter muss ein Bekannter von mir gewesen sein.«
Jeanine fährt mit dem Finger das Blumenmuster des Bettbezugs nach. »Bist du denn ganz sicher, dass das Erinnerungen sind, Sabine? Ich meine, das Ganze ist doch sehr vage. Vielleicht hast du alles bloß geträumt. Warum hört die Erinnerung in dem Moment auf, als du an der Lichtung stehst? Das ist nicht logisch, genauso wenig wie Träume logisch sind. Wenn man einen Traum erzählen will, geht das meist nicht, weil er größtenteils aus Eindrücken und Gefühlen besteht. Die Bilder passen nicht zusammen, alles ist verschwommen. Und oft träumt man ja mehrmals das Gleiche; es kommt was hinzu, das einen logischen Zusammenhang herstellt, und am Ende fragt man sich, ob es vielleicht wirklich passiert ist.«
»Ich hab das nicht geträumt. In Träumen passiert meist was völlig Unerwartetes, das überhaupt nicht dazupasst. In dem Moment, in dem man träumt, findet man das logisch,
aber morgens lacht man drüber. Oder man hat die Hälfte vergessen. Bei mir ist das anders, Jeanine.«
»Glaubst du, es kommen noch mehr Erinnerungen hoch?«
»Keine Ahnung. Ich hoffe es, auch wenn ich nicht weiß, was das bringen soll. Bei der Polizei glaubt man mir sowieso kein Wort. Nicht mal du glaubst mir.«
»Ich glaub dir schon, ich hab lediglich darauf hinweisen wollen, dass du dich irren könntest. Aber was du gerade gesagt hast, das stimmt: Träume sind sehr wirr und unlogisch. Deine Erinnerungen dagegen sind chronologisch und klingen realistisch. Weißt du, was wir tun müssen?«
»Was denn?«
»Wir sollten zusammen zu der Stelle im Wald gehen. Nachprüfen, ob das alles mit deiner Erinnerung übereinstimmt.«
»Das hab ich doch schon gemacht. Es hat alles ganz genau gestimmt. Das Waldstück, die Lichtung, die Brombeersträucher … Alles war da.«
»Okay, dann bleibt nur noch eine Möglichkeit, herauszufinden, ob du geträumt hast oder ob die Erinnerung echt ist.«
»Und die wäre?«
»Wir müssen selbst graben.«
Allein der Gedanke jagt mir einen Schauer über den Rücken. Ich stelle mir vor, wie wir Isabels Skelett finden, tief im Sand vergraben, und auf einmal kommen mir Zweifel. Hat Jeanine vielleicht doch Recht? Treibt mein Geist ein Spiel mit mir? Setze ich Ängste, Vermutungen oder gar Sehnsüchte von früher in Bilder um, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben? Alles in mir sträubt sich dagegen, aber mein Verstand sagt mir, dass ich auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen muss.
Plötzlich steigt eine neue Erinnerung auf, wie eine Seifenblase, und räumt jeglichen Zweifel an der Echtheit meiner Erinnerungen aus.
Es muss kurz nach Isabels Verschwinden gewesen sein, denn mein Vater lag noch im Krankenhaus. Es ist spätabends, und ich gehe die Treppe hinab, unsicher und schlaftrunken.
Meine Mutter sitzt mit einem Glas Wein vor dem Fernseher. Wortlos gehe ich durch die Diele und nehme meine Jacke von der Garderobe.
»Wo willst du hin, Liebes?«, fragt meine Mutter erstaunt.
»Ich muss Isabel helfen«, murmle ich.
Meine Mutter sieht mich an. »Geh wieder schlafen«, sagt sie sanft.
Den einen Arm im Jackenärmel, breche ich in Tränen aus. »Aber sie braucht mich doch!«
Mit sanftem Zwang bringt mich meine Mutter wieder ins Bett, und ich schlafe sofort weiter. Am Morgen und nach jedem weiteren nächtlichen Intermezzo wache ich mit Tränenspuren auf den Wangen und einem unerträglichen Schuldgefühl auf.
Es klingelt: laut und schrill. Vor Schreck springe ich aus dem Bett. Jeanine, die in die Küche gegangen ist, kommt ins Schlafzimmer. Verunsichert sehen wir uns an.
Gemeinsam spähen wir in den Flur. Hinter dem Mattglas der Wohnungstür zeichnet sich eine große breitschultrige Gestalt ab. Olaf.
»Schnell! Zieh dich an!«, zischt Jeanine.
Ich hetze durchs Schlafzimmer und habe binnen weniger Sekunden meine Kleider an.
Wieder klingelt es. Diesmal hält Olaf die Klingel gedrückt, sodass eine Art Daueralarm durch die Wohnung gellt.
»Ich komm ja schon!«, ruft Jeanine. »Muss mir nur noch was anziehen!« Sie schiebt mich zur offenen Terrassentür des Schlafzimmers. »Los, hau ab! Wenn du auf den Mülleimer steigst, kommst du problemlos über den Zaun. Beeil dich!«
Im Nu bin ich draußen. Jeanine wirft mir rasch meine Tasche hinterher, macht die Tür zu und verschließt sie. Bis in den kleinen Garten hinterm
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