Klassentreffen
Haus höre ich Olaf an die Tür trommeln. Ich schnappe mir die Tasche, renne zum Bretterzaun. Dort setze ich den Fuß auf den Zinkeimer, ziehe mich am Zaun hoch und schwinge gekonnt das Bein hinüber. Dann lasse ich mich an der anderen Seite hinabgleiten.
Jeanines türkische Nachbarin hängt im Garten Wäsche auf. Sie lässt das Laken, das sie gerade in der Hand hat, in den Korb sinken und starrt mich sprachlos an.
Ich lächle ihr flüchtig zu, laufe zur Gartentür, mache den Riegel auf und stehe in einer feuchten Gasse. Ich renne los.
KAPITEL 39
Wohin kann man gehen, wenn man vor jemandem auf der Flucht ist, der den gleichen Bekanntenkreis hat? Nirgendwohin. Nicht mal zur Arbeit kann ich mehr. Im Grunde kann ich nur eines tun: dafür sorgen, dass möglichst viele Leute um mich herum sind.
Ich lasse mein Auto bei Jeanine stehen, weil Olaf dort bestimmt Wache hält, und nehme die Straßenbahn ins Zentrum. Von unterwegs aus sage ich in der BANK Bescheid, dass ich einen Tag freinehme.
Am Leidseplein steige ich aus und setze mich in ein Straßencafé, an ein Tischchen hinter einem Blumenkasten. Während ich auf die Bedienung warte, ziehe ich das Handy aus der Tasche und prüfe die Voicemail. Keine Nachricht von Bart. Ich werde unruhig und klopfe mit dem Handy auf die Tischkante. Warum hat er nicht mehr angerufen? Hätte er nicht auf meinen Anrufbeantworter gesprochen, würde ich mir nicht allzu viel dabei denken. Aber so … Ob ich ihn mal anrufe? Niemals selbst einen Mann anrufen, hat meine Mutter immer gesagt. Ein weiser Rat, aber nicht durchführbar. Playing hard to get – mit dieser Devise bin ich womöglich mit dreißig noch Single.
Es dauert nicht lange, bis ich Barts Nummer aufgerufen habe, die ich gestern eingespeichert habe. Ich drücke die Wähltaste, höre ein paarmal das Freizeichen, dann kommt die Voicemail-Ansage: »Hier Bart de Ruijter. Ich kann Ihren Anruf leider momentan nicht entgegennehmen; versuchen Sie es später noch einmal oder hinterlassen Sie eine Nachricht, damit ich zurückrufen kann.«
Ich hinterlasse keine Nachricht. Ein Mädchen mit hochgestecktem dunklem Haar und weißer Schürze kommt an meinen Tisch, zückt den Notizblock und sieht mich fragend an.
»Einen Milchkaffee bitte«, sage ich.
Sie nickt und geht. Ich setze die Sonnenbrille auf, beobachte eine Weile die Passanten und werfe hin und wieder einen Blick aufs Handy, als könnte ich es damit zum Klingeln bringen. Mein Kaffee kommt, ein Junkie geht mit aufgehaltener Hand von Tisch zu Tisch, und die Linie 5 fährt bimmelnd vorbei. Mein Blick gleitet über die Fenster, und ich behalte die Haltestelle scharf im Auge.
Kurz darauf kommt die 2. Ein großer Blonder steigt aus und kommt in meine Richtung. Ich fliehe ins Café und stelle mit einem Blick durchs Fenster fest, dass es ein völlig Fremder ist. Verlegen sehe ich das Mädchen an, das mich bedient hat. Sie guckt forschend zurück, lächelt dann routinemäßig und geht an mir vorbei.
Erst auf der Toilette, hinter der verriegelten Klotür, fühle ich mich wieder sicher. Hinterher wasche ich mir die Hände, bezahle an der Theke, steige in die nächste Straßenbahn und setze mich in die Nähe des Fahrers, allerdings außer Hörweite. Während wir durch die Amsterdamer Innenstadt schlingern, wähle ich die Nummer der Polizei von Den Helder und frage nach Herrn Hartog.
»Der ist erst heute Nachmittag erreichbar«, sagt der diensthabende Beamte.
»Könnten Sie ihn wohl anrufen und ihm etwas ausrichten?«, bitte ich ihn. »Es ist dringend. Sagen Sie ihm, Sabine Kroese habe angerufen. Er kennt meinen Namen. Sagen Sie ihm, ich würde von einem gewissen Olaf van Oirschot bedroht.«
Ich gebe mir Mühe, ganz ruhig zu sprechen, höre aber, dass meine Stimme ein paar Tonlagen höher ist als gewöhnlich. Der Polizist verspricht, Hartog zu informieren.
Ich lege auf. Wahrscheinlich hockt Hartog noch zu Hause am Frühstückstisch, liest Zeitung und interessiert sich einen Dreck für meine Nachricht. Aber immerhin habe ich es versucht. Ab jetzt werde ich ihn über alles auf dem Laufenden halten, bis es ihm zu blöd wird und er auf mich eingeht. Heute Abend nehme ich mir ein Hotelzimmer und rufe ihn von dort noch mal an. Morgen muss ich zwar wieder zur Arbeit, aber mit ein bisschen Glück hat sich Olaf bis dahin wieder halbwegs eingekriegt. Außerdem bin ich nicht in Gefahr, wenn ich von Kollegen umgeben bin.
Viel weiter will ich gar nicht denken. Jeanine hat sicherlich Recht: Das Beste
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