Klassentreffen
kaum noch etwas. Robin erzählte später zu Hause von den wilden Gerüchten, die auf dem Schulhof die Runde machten,
wie niedergeschlagen die Clique sei, zu der Isabel gehört hatte, und dass viele Angst hätten. Isabel war entführt, vergewaltigt, ermordet worden – womöglich alles drei auf einmal. Und wenn ihr das passieren konnte, konnte es jedem passieren. An die Möglichkeit, dass Isabel weggelaufen sein könnte, dachte niemand. Sie hatte schließlich keinen Grund dazu. Sie war das beliebteste Mädchen der Schule, hatte massenhaft Freunde und Freundinnen, und ihre Eltern lie ßen ihr alle Freiheiten.
Lehrer, mit denen Isabel kurz vorher Ärger gehabt hatte, wurden verdächtigt. Jungs, die sie hatte fallen lassen, wurden misstrauische Blicke zugeworfen. Taucher suchten den Grund des Noordhollands-Kanals ab und ein Flugzeug den Strand. Motorradpolizisten fuhren sämtliche Spazierwege im Dünengebiet von Huisduinen bis Callantsoog ab.
Isabels Eltern starteten Aufrufe in Fernsehsendungen wie Fahndung läuft und Die Fünf-Uhr-Show . Nach jeder Sendung meldeten sich Leute aus dem ganzen Land mit Hinweisen oder erklärten sich bereit, bei einer groß angelegten Suchaktion zu helfen, weil die Polizei nicht bereit war, die Armee einzuschalten. Die Suchaktion fand statt, am Ende sogar mit Unterstützung der Armee. Hellseher gaben ihre Prognosen ab, aber gefunden wurde Isabel nicht.
Ich muss mich wohl ganz in mich zurückgezogen haben, weil ich mich an so wenig erinnere. Irgendwann legte sich die Aufregung. Sorgen um die bevorstehenden Zeugnisse und die Versetzung, das neue Schuljahr und vieles andere gewannen die Oberhand. Das Leben ging weiter. Das heißt, es hätte weitergehen müssen, aber ich frage mich noch heute, was mit Isabel passiert ist.
Vor kurzem wurde ihr Fall in der Sendung Vermisst! wieder aufgerollt. Ich zappte gerade durch die Sender, als mir der
unerwartete Anblick von Isabel mit ihren kurzen dunklen Haaren und dem lachenden Gesicht einen Schock versetzte. Wie gebannt verfolgte ich die Rekonstruktion des Tages, an dem sie verschwunden war. Alle möglichen Katastrophenszenarien wurden in Erwägung gezogen, und die ganze Zeit über lachte mich Isabel von dem rechts oben eingeblendeten Foto aus an.
»Es muss Menschen geben, die mehr über das Verschwinden von Isabel Hartman wissen«, sagte der Moderator Jaap Jongbloed ernst. »Wer sich jetzt dazu äußern möchte, kann bei uns in der Redaktion anrufen. Die Nummer ist unten eingeblendet. Wenn Sie auch nur das Geringste zu wissen glauben, zögern Sie bitte nicht und greifen Sie zum Hörer. Für den entscheidenden Hinweis, der zur Aufklärung des Falls führt, ist eine Belohnung von zwanzigtausend Euro ausgesetzt.«
In den Tiefen meines Gedächtnisses grabe ich nach etwas, von dem ich nicht einmal weiß, ob es überhaupt da ist. Die Bilder der Rekonstruktion haben etwas in Gang gesetzt, das mir Kopfzerbrechen bereitet. Ich weiß nicht, warum, aber auf einmal bin ich mir ganz sicher, dass Isabel nicht mehr lebt.
KAPITEL 7
Abends setze ich mich mit einer Flasche Wein an den PC.
Ein Klingeln lässt mich hochschrecken. Mit einem raschen Blick auf die Armbanduhr stelle ich fest, dass es neun ist. Leicht benommen vom Wein stehe ich auf und drücke auf den Türöffner.
»Ich bin’s!«, ruft Jeanine.
Sie kommt hoch und schaut sich um. »Was machst du gerade?«
»Chatten. Muss mich nur rasch abmelden.« Ich gehe zum Computer und logge mich aus.
Jeanine geht in die Küche und bleibt verblüfft stehen. »Wie lange hast du denn dafür gebraucht?«, ruft sie und deutet auf die Ansammlung leerer Weinflaschen.
»Weiß nicht genau.«
»Nicht allzu lange, wie mir scheint.« Sie mustert mich kritisch. »Was ist mit dir?«
»Nichts. Ich trinke nun mal gern ein Glas Wein.«
»Blödsinn. Wer so viel trinkt, der trinkt nicht ›mal gern ein Glas Wein‹, der braucht den Alkohol. Und wer Alkohol braucht, der hat ein Problem.«
Ich fühle mich unbehaglich unter Jeanines forschendem Blick. Sie gibt mir das Gefühl, eine Alkoholikerin zu sein, die ihre Flaschenvorräte unterm Bett versteckt.
»Vielleicht solltest du lieber versuchen herauszufinden, warum es dir so mies geht, statt dir einzureden, dass du ›gern mal ein Glas Wein‹ trinkst«, sagt Jeanine.
Dabei sieht sie mich so besorgt an, dass mein Ärger verfliegt. Es ist lange her, dass mich jemand so angesehen hat.
Bis auf meine Therapeutin, aber die wurde ja dafür bezahlt.
Wir setzen uns an den
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