Klassentreffen
Gesicht.
»Wollen wir ein Stück fahren?«, schlage ich vor.
Wir fahren einfach drauflos. Es hat den ganzen Vormittag geregnet, aber jetzt kommt zaghaft die Sonne durch. Den Helder wirkt ruhig, fast schon wie ausgestorben. Es ist der 2. Juni; die Sommerferien haben noch nicht angefangen. Alle sind hinter Glas eingesperrt, in Klassenzimmern oder Büros. Wir fahren den Middenweg entlang zur Schule, am Pausenhof vorbei, wo die vielen Räder in der Sonne blinken. Aber wir halten nicht an, sondern fahren weiter, zur Kreuzung am Jan Verfailleweg. Die Ampel zeigt Rot, und ich bremse. Schweigend schaue ich geradeaus, das Mädchen ebenfalls. Ich versuche mir vorzustellen, was sie denkt, will ihre Erinnerungen teilen.
»Hier war es«, sagt sie. »Da stand der Transporter, und hier ich mit meinem Rad. Isabel war ganz vorn. Sie hat mich nicht bemerkt.«
Ich nicke.
»Dann wurde die Ampel grün, und Isabel fuhr geradeaus. Der Transporter hat sie überholt. Ich selbst bin dann rechts abgebogen«, sagt das Mädchen.
»Ja«, bestätige ich, »in die Seringenlaan und von dort in die Dunklen Dünen .«
»Sie hatte eine Verabredung«, sagt sie.
Mein Herz schlägt schneller, und ich schließe für einen Moment die Augen. »Mit wem?«, höre ich mich etwas heiser fragen. »Mit wem war sie verabredet?«
»Das weiß ich nicht. Sie hat seinen Namen nicht genannt, und ich hab niemanden gesehen.«
»Aber du hast sie doch zusammen im Wald verschwinden sehen. Du bist ihnen nachgegangen!«
Wieder wendet das Mädchen den Blick ab. »Stimmt doch gar nicht«, sagt sie abweisend. »Wie kommst du denn darauf?«
»Mir kannst du es doch erzählen«, sage ich mit freundlicher Geduld, obwohl mir gar nicht so zumute ist. »Ich weiß nämlich, warum du ihnen nachgegangen bist. Ich weiß, wovor du Angst hattest.« Ich sehe sie von der Seite an, aber sie weicht meinem Blick aus.
»War es schlimm, was du gesehen hast?«, frage ich leise. »So schlimm, dass du nicht mal mit mir darüber reden kannst?«
Sie schweigt.
Die Ampel wird grün, ich gebe Gas und fahre geradeaus. So funktioniert das nicht, ich muss es anders probieren.
Wie ein schwarzer Streifen tauchen die Dunklen Dünen vor uns auf. Erst als wir am Wald entlangfahren, wirkt er freundlicher. Sonnenlicht fällt durch die Baumkronen, verjagt die Schatten zwischen den Stämmen und überzieht die Wege mit einem Teppich aus Licht. Auf dem Weg am Waldrand sind Radfahrer, Jogger und Spaziergänger zu sehen. An der Imbissbude lungern ein paar Jugendliche herum. Erst als wir den Parkplatz hinter der Bude ansteuern, merke ich, dass das Mädchen nervös ist. Sie spielt an ihrem Ring herum, guckt ängstlich aus dem Fenster und starrt dann wieder auf ihre Schuhe.
Ich ziehe den Zündschlüssel ab. »Kommst du mit?« Mein Tonfall ist freundlich, aber so bestimmt, dass Widerspruch zwecklos ist. Ich mache die Autotür auf und steige aus, doch sie bleibt sitzen.
»Komm, wir gehen zusammen«, versuche ich sie zu überreden.
Nach längerem Zögern steigt sie aus. Ich schließe das Auto ab, und wir überqueren die Straße. Wir passieren den Streichelzoo und betreten das Waldstück, nehmen den Weg am Ententeich vorbei zum Aussichtsturm und laufen dann weiter, dorthin, wo die Wege schmaler und einsamer werden und in vielen Windungen in Richtung Dünen führen.
Plötzlich bleibt sie stehen. Ich halte ebenfalls inne und sehe sie an. »Hier war es, stimmt’s?«, frage ich.
Zum ersten Mal schaut sie mir voll ins Gesicht, mit gro ßen blauen Augen, in denen Entsetzen steht. »Sie hatten Streit«, sagt sie leise. »Und wie! Er hat sie geschlagen, an den Armen gepackt und durchgeschüttelt. Dann hat er sie wieder geschlagen, aber sie hat sich losgerissen und ist davongerannt. Da, in diese Richtung!« Sie deutet ins Dickicht.
Ich schaue zu der Stelle hinüber. Einsam und still ist es hier, genau wie an jenem sonnigen Spätfrühlingstag. Ich starre die Stelle an und versuche, mich in die Zeit zurückzuversetzen. Es ist warm, ich habe gerade Schulschluss. Für mich ist der Montag immer am schlimmsten; das Wochenende ist vorbei, und bis Freitag ist es noch lange hin. Am Montagnachmittag hat die Bibliothek geöffnet; ich kann stundenlang in den Regalen stöbern und mir Bücher aussuchen, die mich in andere Welten entführen. Aber ich bin nicht in die Bibliothek gegangen, ich bin Isabel gefolgt, die mit einem Mann in den Wald gegangen ist und jetzt, an diesem vollkommen stillen Ort, einen Riesenkrach mit ihm
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