Klassentreffen
so, als wärst du dir der Sache ganz sicher«, sage ich lachend.
»Bin ich auch. Wenn sie die Wahl zwischen dir und Renée haben, ist doch wohl völlig klar, wer den Job kriegt. Gegen die kommst du locker an«, meint Olaf sehr bestimmt.
Das wäre einfach zu schön, um wahr zu sein.
Sie tauchen jetzt ständig auf: Gedankenblitze, Erinnerungsbruchstücke und Bilder aus dem hintersten Winkel meines Gedächtnisses. Sie kommen, wenn ich am wenigsten damit rechne, aber ich wehre mich nicht mehr dagegen. Denn das habe ich die ganze Zeit über gemacht, wie mir jetzt klar wird. Aber inzwischen bin ich älter. Das Ganze ist schon so lange her; ich muss mich dem stellen können.
Und dann spüre ich den Wind in meinen Haaren.
Über den Fahrradlenker gebeugt, trete ich wie besessen in die Pedale, höre meinen keuchenden Atem und spüre ein Brennen in der Lunge, weil ich nicht genug Sauerstoff bekomme. Die Angst treibt mich voran wie eine plötzliche Windbö. Ich verausgabe mich, bis ich fast nicht mehr kann. Sobald ich wieder ein Bild vor mir sehe, schüttle ich den Kopf, um es loszuwerden, und lege noch mehr Tempo zu.
Zu Hause sind alle ausgeflogen. Robins Moped steht nicht vor der Tür, und auch das Auto ist nicht da; meine Mutter ist bestimmt ins Krankenhaus gefahren.
Ich renne die Treppe hoch in mein Zimmer. Durch den dichten Nebel um mich herum kann die Angst nicht an
mich heran. Aber sie ist trotzdem da, ebenso das Entsetzen, und beides nistet sich tief in mir ein.
Ich gehe zwanghaft im Kreis, ohne es so recht zu merken. Erst als sich der Nebel lichtet und aus meinem Jugendzimmer meine vertraute Wohnung wird, halte ich inne.
Langsam gehe ich zur Kommode und betrachte mich in dem Zierspiegel vom Flohmarkt, der darüber hängt.
Wie eine junge Frau mit einem düsteren Geheimnis sehe ich nicht aus. Höchstens, wenn man mir in die Augen schaut, in denen kein Fünkchen Lebendigkeit mehr ist. Augen sind der Spiegel der Seele. Ich drücke die Nase gegen das Glas und gucke: Die blauen Augen gucken zurück, ohne ihre Geheimnisse preiszugeben.
»Bei Problemen geht es nicht darum, dass man Lösungen findet, sondern die Ursache«, hat die Psychologin gesagt, bei der ich in Behandlung war. »Ihr Unterbewusstsein kennt alle Antworten, hat alles gespeichert, was Ihr Handeln bestimmt. Ich bin mir sicher, dass dort etwas ganz Entscheidendes verborgen liegt, aber da komme ich nicht ran, solange Sie das nicht selbst wollen.«
Damals ließ ich ihre Worte ohne großes Interesse an mir vorbeiziehen, aber jetzt erinnere ich mich an jedes einzelne. Ratlos sehe ich mich um. Meine Wohnung kommt mir auf einmal ganz eng und beklemmend vor. Ich schnappe mir meine Tasche, renne die Treppe hinunter und schiebe das Rad aus dem Hausflur.
Es ist schönes Wetter und warm. Die frische Luft und die Sonne auf dem Gesicht tun mir gut; der Druck auf der Brust lässt nach, und ich tauche in den vertrauten Stadtlärm ein.
Vor der Bibliothek in der Prinsengracht steige ich ab und mache mein Rad mit allen drei Schlössern fest. Wenn ich
irgendwo eine Antwort auf meine Fragen finde, dann hier: Es gibt einen großen Bestand an psychologischer Fachliteratur, die mich beschäftigt, bis die Bibliothek schließt. Etliche Bücher über die Funktion des Gedächtnisses sehe ich an Ort und Stelle durch: Ich lese, wähle aus, kopiere … und fahre dann mit einem dicken Packen Bücher nach Hause.
Mit einer Tasse Tee setze ich mich auf den Balkon und nehme eines der Bücher zur Hand. Wo ist der Sitz des Bewusststeins? lautet die Überschrift des ersten Kapitels. Das frage ich mich auch oft. Ich lese über Hirnrinde, Nervenzellen und Hemisphären, aber so rein anatomisch kommt man dem Problem offenbar nicht bei. »Das Bewusstsein ist ein neurologischer Prozess, vergleichbar einem Musikstück, das sich erst aus dem Zusammenspiel aller Instrumente ergibt«, so der amerikanische Neurologe Antonio Damasio. Man soll sich ein Orchester mit unzähligen Musikern vorstellen: Wo genau ist dann der Sitz der Musik?
Das interessiert mich eigentlich nicht so sehr. Ich blättere weiter zu einem Thema, das mich mehr fasziniert.
Das Gedächtnis.
Gespannt fange ich an zu lesen.
»Erinnerungen sind Konstrukte, die mit uns wachsen und älter werden. Deshalb sollte man vorsichtig sein mit Aussagen wie ›ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen‹«, warnt der Psychologe Michael Ross.
Und ein paar Seiten weiter: »Dass das Gedächtnis manchmal einen Schubs braucht,
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