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Klassentreffen

Titel: Klassentreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Vlugt
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Holzbänke und Kleiderhaken. Nicht nur die Mädchen sind weg, auch ihre Jeans, der weiße Pulli, Jacke, Schuhe und Turnzeug. Sie geht durch den Umkleideraum und sucht überall, aber ihre Sachen sind und bleiben verschwunden.
    Im Flur zur Turnhalle ruft sie nach der Lehrerin. Keine Antwort. Schließlich geht sie in den kleinen Raum, in dem außer Basketbällen und Hockeyschlägern auch Fundgegenstände aufbewahrt werden. Aus dem Korb mit den gefundenen Turnsachen holt sie ein Leibchen und eine Turnhose heraus. Die Sachen passen ihr wie angegossen, und noch vor dem Läuten geht sie barfuß durch den Flur und verlässt die Schule durch den Notausgang, was streng verboten ist.
    Da klingelt es, und der Schulhof leert sich. Auf dem Weg zum Fahrradschuppen sieht sie ihre Kleider auf dem Hof liegen, in den Schmutz getreten und zerrissen. Sie hebt alles auf: ihre neue Jacke, ihre Lieblingsjeans, ihre Schuhe, den zerschnittenen Pulli.
    Vor vielen neugierigen Augen hinter Klassenzimmerfenstern schlüpft sie in die schmutzigen Kleider, steigt aufs Rad und fährt los. Zu Hause ist niemand da. Sie stopft die Jeans in die Waschmaschine, schrubbt die Schuhe mit Seifenwasser
sauber und betrachtet die Löcher im Pulli und die Risse in der Jacke. Dann wirft sie beides weg.
    Alles ist auf einmal wieder da.
    Es war Robin, der sie später auf dem Moped mit in die Stadt nahm, um eine neue Jacke zu kaufen. Robin, der überraschend nach Hause kam und sie in ihrem Zimmer mit den kaputten Kleidungsstücken entdeckte.
    »Erzähl Mama nichts«, bat sie ihn, als sie aus der Stadt zurück waren. »Sie hat auch so schon genug Sorgen, jetzt wo Papa im Krankenhaus liegt.«
    Er nickte grimmig und presste die Lippen zusammen.
    Sie zog sich in ihr Zimmer zurück, legte sich aufs Bett und dachte darüber nach, was sie nur falsch gemacht hatte, dass Isabel sie so sehr hasste. Ihr fiel nichts ein.
    Auch heute fällt mir nichts ein. Wahrscheinlich machte mich meine Wehrlosigkeit zu einem idealen Opfer und provozierte die Clique dazu, meine Grenzen auszuloten. Und die waren weit gefasst; ich verteidigte mich nicht. Ich zog mich immer mehr zurück und versuchte, die langen Schultage isoliert von den anderen zu überstehen.
    Noch heute verursacht mir das Beklemmungen.
    »Was würden Sie diesem einsamen Mädchen heute gern sagen?«, fragte meine Psychologin.
    »Dass es nicht so bleiben wird. Ich möchte sie beruhigen und trösten.«
    »Dann tun Sie das. Legen Sie die Arme um sie.«
    Das habe ich seitdem immer wieder gemacht. Es hat geholfen. Nicht sofort, aber irgendwann schaffte ich es, mich von diesem Mädchen zu lösen und mich selbst als eine andere, ältere Sabine zu sehen, die der jüngeren Trost spenden konnte.
    Aber jetzt will ich keinen Trost mehr spenden.
    Ich will Antworten haben.

KAPITEL 25
    Ich kann mich überhaupt nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren. Ich muss wieder nach Den Helder. Ohne Gewissensbisse melde ich mich mittags krank. Ich bin auch krank, total erschöpft wegen der Erinnerungen. Es überrascht mich, wie viel da wieder hochkommt – als hätten die Erinnerungen eine Magnetwirkung: Eine zieht die nächste an.
    Ich kann den Film in meinem Kopf nicht mehr anhalten und versuche es auch gar nicht. Ich kenne die Geschichte, habe eine Vermutung, was ihren Ausgang betrifft, aber keine Gewissheit.
    Ich nehme starken Kaffee aus der Kantine mit, zücke den Autoschlüssel und lasse den Motor an. Auf der Fahrt nach Den Helder versuche ich ruhig zu bleiben. Das Radio ist an, und ich singe leise mit, aber meine Stimme ist wacklig. Als ich mich nach einer Stunde der Innenstadt von Den Helder nähere, fahre ich direkt zum Bernardplein. Ich ziehe das Autoradio aus dem Schlitz, stecke es ein und steige aus. Rechts von mir liegt das Theater Kampanje, gegenüber die Stadtbibliothek, mein einstiger Zufluchtsort in langen, einsamen Freistunden. Ich betrete das vertraute Gebäude, gehe die Treppe hinauf, setze mich an einen Tisch und ziehe mein Tagebuch aus der Tasche.
    Ich blättere eine Weile darin, und nach kurzer Zeit gesellt sich das Mädchen wie von selbst zu mir.
    »Du musst mir helfen«, sage ich.
    Sie sieht mich aus großen blauen Augen an, sagt aber nichts.

    »Du kannst nicht ewig schweigen.«
    Sie wendet den Blick ab.
    »Du hast sie gesehen. Nicht nur an der Kreuzung, sondern auch später. Warum erzählst du mir nichts davon? Warum sagst du nicht, was du gesehen hast?« Sie schweigt. Das hellbraune Haar fällt wie ein Vorhang vor ihr

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