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Klassentreffen

Titel: Klassentreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Vlugt
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wusste William James bereits im 19. Jahrhundert. ›Angenommen, ich schweige einen Moment lang und sage dann … Erinnere dich!, wird mein Gedächtnis dann gehorchen und ein beliebiges Bild aus der Vergangenheit reproduzieren? Wohl kaum. Stattdessen wird es ratlos fragen: An was genau soll ich mich erinnern?‹

    Das Gedächtnis liefert die Erinnerungen nicht auf Kommando, sondern aufgrund von bestimmten Auslösern. Es ist sinnlos, den sich Erinnernden zu fragen, was ihn darauf gebracht hat: Nur selten wird er den hinter der Erinnerung verborgenen Auslöser nennen können.«
    Ich blättere weiter, dann lese ich mich wieder fest: »Wenn wir nach Erinnerungen suchen, die uns abhanden gekommen sind, betreten wir einen seltsamen Bereich unserer Psyche: die Verdrängung. Die Befürworter der Verdrängungstheorie glauben an die Fähigkeit unseres Geistes, sich gegen emotional aufwühlende Erlebnisse zu wehren, indem bestimmte Erfahrungen und Gefühle aus dem Bewusstsein ausgeblendet werden.
    Unsere Seele kann Türen öffnen, aber manchmal auch blockieren. Letzteres nennt man Amnesie. In einem Teil unseres Gedächtnisses, dem so genannten expliziten Gedächtnis, sind Erinnerungen an traumatische Ereignisse mitunter nicht abrufbar, während ein anderer, davon unabhängig funktionierender Teil, das implizite Gedächtnis, Erinnerungen an das Trauma in Form von Träumen und Angstgefühlen hochkommen lässt.
    Verdrängung ist also keine bewusste Entscheidung. Sie ist auf emotionale, psychische oder physische Situationen zurückzuführen, die so erschütternd sind, dass ihnen der Betreffende nicht gewachsen ist. Wir entscheiden uns also nicht bewusst, bestimmte Bilder auszublenden, wir tun es einfach. Verdrängung ist somit eine Art Schutzmechanismus, mit dem sich unser Geist gegen etwas schützt, dem wir uns noch nicht stellen können.«
    Sämtliche Aussagen und Schlussfolgerungen werden mit anschaulichen Fallbeispielen untermauert. Ich lese sie mit wachsendem Unbehagen. Schließlich lasse ich das Buch sinken, nehme meine Tasse vom Balkontisch und trinke einen
Schluck Tee. Tief in meinem Innern meldet sich eine Stimme, die ich in all den Jahren zum Schweigen verurteilt habe.
     
    Nachts im Bett stelle ich mein Gedächtnis auf die Probe, indem ich die Augen schließe und versuche, mich all dem zu öffnen, was ich anscheinend verdrängt habe. Es funktioniert nicht; doch irgendetwas ist da, was mich in eine bestimmte Richtung lotst und mir das Gefühl gibt, nahe dran zu sein, um dann im letzten Moment spurlos zu verschwinden.
    Vielleicht könnte ich mich erinnern, wenn ich mir große Mühe gäbe, aber irgendwie traue ich mich nicht. Jedes Mal, wenn die Finsternis weicht und ein Stück Vergangenheit freigibt, lasse ich mich feige in einen Traum hinübergleiten. Aber es sind Albträume, die sich beim ersten Tageslicht verflüchtigen und mich schweißgebadet erwachen lassen.
    Todmüde stehe ich auf und mache mich auf den Weg zur Arbeit. Es regnet. Ein Platzregen vertreibt die Hitze der letzten Wochen, und vom Park weht Blütenduft herüber. Schnell steige ich ins Auto, fahre los und stelle die Scheibenwischer auf die höchste Stufe, damit ich die Straße einigermaßen erkennen kann. Etwas verspätet erreiche ich die BANK, wo noch etliche Kollegen vor dem Eingang ihre Regenmäntel und Schirme ausschütteln.
    Geistesabwesend öffne ich die Post und lasse die gehässigen Bemerkungen der Kolleginnen wie Regentropfen an mir abperlen.
    Ich sehe mich, als befände ich mich außerhalb meines Körpers: gemieden und isoliert. Meine Therapeutin hat mir gezeigt, wie ich mir selbst Trost spenden kann. Sie hat mir geraten, die einsame, unglückliche Sabine von damals zu suchen und ihr beizustehen. Genau das habe ich getan. Ich habe das Mädchen von damals gesucht und gefunden – auch in den Straßen von Den Helder und auf dem Schulhof.

    Und jetzt sehe ich, wie sie nach dem Sport im Umkleideraum sitzt. Sie duscht etwas später als die anderen, damit sie ein wenig für sich sein kann. Die Mädchen von der Clique haben sie mal wieder ignoriert; sie ziehen sich gerade um. Als sie vorsichtig aus der Dusche in den Umkleideraum schleicht, sind alle schon weg.
    Draußen lärmen ausgelassene Schüler auf dem Hof; es ist gerade Pause. Noch fünf Minuten, dann klingelt es, und die nächste Klasse kommt zum Sportunterricht.
    Sie zieht das schmale Handtuch enger und versucht, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Ihr Blick gleitet durch den Raum, über

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