Klassenziel (German Edition)
dieses ganze Leichtathletik-Gehüpfe oder sogar Geräteturnen, nee danke. Ich geh es also locker an und spare mir meine Energie auf, um besser beobachten zu können.
J e mehr ich von diesem Haus sah, desto stärker hatte ich den Eindruck, dass mein Vater im Exil lebte. Ich machte den Küchenschrank auf und entdeckte unser altes rotes Ikea-Geschirr. In Papas Arbeitszimmer hingen die vertrauten Le-Corbusier-Fotos an der Wand, die früher über den Flur verteilt gewesen waren. Die fünf Bananenpflanzen in den schwarzen Übertöpfen auf seiner Wohnzimmerfensterbank hatten bei uns in Viersen im Wintergarten gestanden. Und die Handtücher im Gäste-WC hatte meine Mutter erst letzten Herbst aussortiert, weil ihr Lila nicht mehr gefiel.
Es sah hier alles so aus, als wäre mein Vater mit dem, was in unserem gemeinsamen Leben so an Überflüssigem angefallen war, weggeschickt worden und hätte sich tapfer ein neues Zuhause damit zu schaffen versucht. Allerdings eins, in dem die Sehnsucht aus jeder Steckdose sprang. Das tat so weh, Mann.
Nachdem ich alle Räume gesehen hatte, schloss ich mich im Badezimmer ein und heulte eine Viertelstunde lang. Ich schniefte möglichst lautlos ins Klopapier und brauchte die ganze Rolle auf. Auf dem Wannenrand saß diese Gummiente mit Stethoskop und Arztkittel, die ich damals geschenkt bekommen hatte, als ich mit dem Bänderriss im Krankenhaus gewesen war. Ich nahm sie in die Hand und heulte noch mehr, weil ich mir vorstellte, wie mein Vater sonntagsmorgens in der Badewanne lag und das Entchen auf dem Schaum schaukeln ließ. Traurig, einsam und voller Wehmut.
Nachdem ich mich ein bisschen beruhigt und mir das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen hatte, wollte ich rausgehen und meinen Vater umarmen, ihn ganz feste drücken und ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte. Ich hatte ihn wahrscheinlich noch nie so sehr geliebt wie in diesem Augenblick; mein Hals war ganz wund vor Liebe. Er war mit Nick draußen im Garten hinter dem Haus und verteilte Kohle auf einem Standgrill. Nick stand daneben und schüttelte eine Schachtel Streichhölzer.
Als er mich sah, rief er: «Bring doch bitte deinen Bruder davon ab, Spiritus als Brandbeschleuniger zu nehmen, ja? Er wird uns noch alle abfackeln!»
Und ich schaltete augenblicklich um in den Jamie-Modus und sagte: «Das ist doch bloß ein politisches Statement. Er will durch Selbstverbrennung gegen die Ausbeutung von Spanferkeln protestieren.»
Wir lachten. Alle drei. Auch das ist natürlich irgendeine Form von Nähe. Aber ich hatte es wieder nicht geschafft, einfach mal echt zu sein. Das wunde Kratzen in meinem Hals blieb mein Geheimnis und verschwand irgendwann von selbst.
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D ie Sportlehrerin heißt Wünsch-Reddemann, was ich mit Sicherheit bis zur nächsten Stunde wieder vergessen habe. Sie hat eine extrem drahtige Figur. Kein Busen, keine Taille, alles nur Muskeln. An ihren Oberarmen beult sich ein richtiger Bizeps wie bei einem Kerl. Die blonden Haare hat sie sich mit einem Gummi superstraff nach hinten gebunden. Irgendwie macht die Frau mir Angst, auch weil sie so einen militärischen Kommandoton draufhat.
Nach dem Aufwärmen sollen wir am Barren turnen. Ganz ehrlich: Ich hasse Barren. Und ich komme auch nicht besonders gut damit klar. Aber wenigstens falle ich nicht von den Stangen runter wie ein nasser Sack, im Gegensatz zu Maxi – worüber alle lachen, als wäre es ein toller Gag.
M ein Vater hat in Berlin studiert und auch danach noch ein paar Jahre da gelebt, deshalb kennt er sich ziemlich gut aus in der Stadt. Er hatte ein richtiges Programm für uns vorbereitet. Wir aßen Matjes in einem Restaurantschiff auf der Havel, feierten mit Wildfremden auf der Admiralbrücke und guckten uns einen Karaoke-Wettstreit im Mauerpark an.
In Prenzlauer Berg entdeckte Dominik ein Waffengeschäft. Irgendeine unsichtbare Macht, die stärker war als er selbst, saugte ihn durch die Eingangstür, und nachdem er einmal drin war, kriegten wir ihn nicht mehr raus. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich ihn jemals so aufgekratzt erlebt habe wie in diesem gruseligen Laden mit mittelalterlichen Wurfsternen, japanischen Schwertern und einem echten Supermarktsortiment an Gas- und Schreckschusspistolen. Mit denen hielt Nick sich übrigens nicht lange auf. Er steuerte ziemlich bald in den hinteren Teil, wo die Gewehre aufgereiht waren, und fing ein Fachgespräch mit dem Verkäufer an.
Mein Vater und ich blödelten eine Zeitlang rum und machten
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