Klassenziel (German Edition)
Krankenhaus, davon schwebten zwei in Lebensgefahr. Einer davon war Ramon.
Es war ja der Tag der Zeugnisausgabe und der letzte Tag vor den Ferien gewesen, und das hieß an unserer Schule, dass wir morgens immer erst mal alle Tische in den Flur stellten, damit die Reinigungskräfte später überall durchwischen konnten. Dann setzten wir uns im Kreis auf unsere Stühle und wurden reihum aufgerufen, um uns vom Lehrer das Zeugnis abzuholen.
Nick war kurz nach acht gekommen, als die Tische schon draußen waren. Als Erstes erschoss er seinen Lehrer. Dann brauchte er sein Maschinengewehr nur in die Runde zu schwenken. Keiner hatte eine Chance, sich zu verstecken oder abzuhauen. In seiner Klasse gab es sieben Tote. Als Nächstes ging er den Flur runter, vier Türen weiter, denn da war meine Klasse. Dort hatten sie natürlich die Schüsse gehört, und deshalb saßen die meisten nicht mehr auf ihren Stühlen, aber meine Klassenlehrerin hatte verboten, dass irgendjemand raus auf den Flur ging. Sie hatte – wie viele andere – über ihr Handy schon die Polizei angerufen.
Dominik preschte in den Raum und schoss gezielt. Als Erstes auf Billie Erkens. Dann auf Annabelle – die mit dem iPhone. Dann auf meine Lehrerin, die bei ihm Mathe unterrichtete. Und dann auf die anderen. Auch auf Ramon, Till und Melody. Till war sofort tot. Melody starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Und Ramon lag jetzt auf der Intensivstation und war nicht ansprechbar.
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W ir einigen uns auf ein paar Rocksongs, die wir alle kennen, ganz schlichtes Zeug von AC/DC, Greenday und Nirvana, nur um mal zu sehen, ob wir überhaupt zusammen spielen können und wie wir so klarkommen. Ich glaube, wir sind alle überrascht, dass es fast reibungslos funktioniert. Mich macht es ein bisschen nervös, dass die drei ihre Instrumente so unglaublich gut beherrschen. Bisher habe ich meine Gitarre immer sozusagen halb im Schlaf gespielt und mit einem Ohr auf Ramons und Tills kleine Patzer gelauscht (auch wenn die im Laufe der Monate immer seltener wurden). Jetzt ist es umgekehrt: Ich hab das Gefühl, dass ich von allen Anwesenden der schlechteste Musiker bin, und muss mich tierisch anstrengen, um keine Fehler zu machen.
Dass die anderen mich loben, tut mir echt gut. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal ein Lob wirklich dankbar entgegengenommen und nicht nur als mehr oder weniger selbstverständlichen Kommentar betrachtet habe. «Was ist denn jetzt mit eurem Gitarristen?», frage ich. «Kommt der gar nicht mehr oder was?»
«Keine Ahnung», sagt Moritz. «Ich hab gestern noch mit ihm telefoniert. Aber wie du siehst …» Er schwenkt den Arm im Halbkreis. Ich hoffe heimlich, dass der Typ nie mehr auftaucht.
A lle wussten natürlich, dass wir nicht mehr in unserem Haus wohnten, sondern irgendwo anders untergebracht waren. Aber es gab in Viersen und Umgebung mehrere Hotels, und unser genauer Aufenthaltsort blieb geheim. Trotzdem drückte sich immer ein Rudel Journalisten unten in der Hotelhalle rum – versuchen konnte man es ja mal –, deshalb gingen wir auch nicht mehr runter in den Speisesaal. Wir waren uns einig, dass wir keine Interviews mehr geben wollten. Vom Frühstück bis zum Abendessen ließen wir uns alles aufs Zimmer bringen. Und dieses Gefühl des Eingesperrtseins machte mich zusätzlich fertig.
Die Tage flossen einfach so ineinander, als hätten sie keinen Anfang und kein Ende. Ich wusste nicht mehr, welchen Wochentag wir hatten. Meistens konnte ich nicht mal die Uhrzeit bestimmen. Die einzigen Ereignisse waren die Mahlzeiten – von denen ich meistens kaum was aß – und die Besuche von Monika Gerritzen. Die Psychologin kam regelmäßig im Hotel vorbei, und ich muss zugeben, das war gut so. Ich kriegte alleine fast gar nichts mehr auf die Kette. Meine Gedanken drehten sich nur noch im Kreis und rotierten um Nick, Melody, Ramon und Till – und die Bilder, die ich im Fernsehen gesehen hatte.
Manchmal lag ich stundenlang auf dem Bett und starrte an die Decke, dann konnte ich nicht mehr aufhören zu heulen, dann kriegte ich totale Ausraster und hämmerte gegen die Wände, dann wollte ich unbedingt raus und musste von meinem Vater gewaltsam zurückgehalten werden. Und schließlich das Ganze wieder von vorne.
Ich wurde immer wieder befragt, und es tat mir fast leid, dass ich nichts Neues dazuerfinden durfte. Das war alles so dürftig. So als hätte ich meinen Bruder überhaupt nicht gekannt. Es war mir peinlich, dass ich zum
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