Klassenziel (German Edition)
nicht alle nebeneinander. Es war trotzdem nicht besonders schwer, sie zu finden: überall dort, wo frische Blumen aufgetürmt waren.
Das von Melody lag ziemlich weit hinten an der Friedhofsmauer. Ein Kranz aus Sonnenblumen und Margeriten lag darauf, und auf der Schleife stand: «Du klingst für immer in uns fort. In Liebe, Mama und Papa.» Ich sackte auf die Knie, krümmte mich zu einem Häufchen Elend zusammen und heulte wie ein Kind. Das kam dann abends in der Lokalzeit .
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N ach Toshis eiligem Aufbruch schlägt Moritz vor, dass wir uns noch ein bisschen zusammensetzen und über alles reden. Na ja, Moritz ist neunzehn, er kann so lange wegbleiben, wie er will. Bei Kenji und mir sieht das anders aus. Ich rufe meinen Vater an, der ein paar Rahmenbedingungen festlegt: Wir sollen im Probenraum bleiben, und um Punkt eins kommt er mich mit dem Auto abholen. Und ja, natürlich kann er Kenji dann auch gleich nach Hause bringen. Moritz zieht los und besorgt Getränke.
«Du spielst wirklich toll», sagt Kenji, als wir alleine sind und uns auf der Couch rekeln. «Viel besser als Charlie. Der hat auch nie mal irgendwelche Vorschläge gemacht oder so. Und außerdem ist er heute schon wieder nicht aufgetaucht – ich denk mal, das Ding ist gelaufen.»
Innerlich schlage ich einen Salto, sage aber trotzdem: «Na ja, ich will ihm ja nicht einfach so den Job wegnehmen. Ich meine, wenn er doch noch mal kommt …»
«Na und?», fällt mir Kenji ins Wort. «Dann hat er eben Pech gehabt! Ich will jetzt dich!» Wir lachen beide, und ich sage: «Lass uns doch wenigstens die Scheidung abwarten, Schatz», woraufhin Kenji mir den Kopf auf die Schulter legt und sagt: «Ich kann nicht warten, Liebling!»
Das ist natürlich nur Rumgealber, aber ich gebe zu, dass es auch ein bisschen kribbelt. Jedenfalls so lange, bis Kenji wieder hochspringt und sich den Bass umhängt, um mir eine neue mögliche Variante für Way up vorzuspielen. Als Moritz mit einer Plastiktüte voller Bierflaschen zurückkommt, sind wir schon wieder mitten in der Probenarbeit. «Nee, Leute, jetzt lasst mal gut sein», sagt er. «Sonst zieh ich die Stecker raus. Wir haben Feierabend, Mann!»
E he mein Vater wieder nach Berlin zurückmusste, kaufte er mir ein neues Handy. Es war noch viel besser als das alte, mit 32 Gigabyte Speicher, 8 Megapixel Kameraauflösung, Navigationsfunktion und über 700 Stunden Stand-by. Er kaufte mir auch noch ein Bluetooth-Stereo-Headset und eine Gürteltasche dazu. Aber ich hätte das alles, ohne zu zögern, in die Niers geschmissen, wenn er stattdessen hiergeblieben wäre.
Als sein Auto um die Ecke gebogen war, ging ich ganz schnell zurück ins Haus, damit die Fotografen mich nicht wieder beim Heulen erwischten. Ich hatte gebettelt und gefleht, mit ihm nach Berlin fahren zu dürfen, aber meine Mutter fühlte sich der ganzen Sache allein nicht gewachsen, und außerdem waren die polizeilichen Ermittlungen immer noch nicht abgeschlossen, und ich sollte für eventuelle Rückfragen zur Verfügung stehen.
Mein Zimmer durfte ich wieder benutzen, sogar selbstständig meine Unterwäsche aus dem Schrank nehmen. Aber der Raum wirkte kahl und fremd, weil die Polizei so viel mitgenommen hatte. Außerdem war der Anblick von Dominiks leerem Bett kaum auszuhalten. Nachts lag ich wach und guckte immer wieder rüber, weil ich damit rechnete, dass sich im Halbdunkel plötzlich die Bettdecke bewegte. Ich wünschte mir, dass Nick wieder da wäre und mir seine Gruselgeschichten erzählte. Dabei hatte ich höchstens halb so viel Schiss gehabt.
Überhaupt hatte ich in der ersten Zeit nach seinem Tod oft das Gefühl, er würde spuken. Uns heimsuchen oder wie man das nennt. Sogar im Hotel war ich ab und zu aus dem Schlaf hochgeschreckt und meinte zu sehen, wie er zur Tür rausflutschte. Manchmal roch ich sein Deo. Und einmal hörte ich nachts jemanden im Badezimmer pinkeln und dachte, es wäre mein Vater, aber dann sah ich, dass der neben mir schlief. Und genau in dem Moment verstummte das Geräusch auch.
Zu Hause wurde das dann noch schlimmer, vielleicht, weil es so selbstverständlich gewesen war, dass Nick sich hier aufhielt. Unser Zimmer kam mir vor wie ein Foto, aus dem jemand rausgeschnitten worden ist. Man kann gar nicht anders, als das Loch anzustarren und sich zu fragen, was mit dieser Person passiert ist. Und gerade weil sie so demonstrativ fehlt, wird sie erst gegenwärtig.
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E benso wie
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