Klassenziel (German Edition)
und ich hab ihn längst drauf, wandele ihn aber ein bisschen ab. Wir spielen das Stück immer wieder. Es hat sowieso eine hypnotische Wirkung, und jetzt, mit diesen Upgrades, versetzt es einen regelrecht in Trance, besonders wenn man es so in die Länge zieht und einfach immer wieder neu anfangen lässt, wie wir das gerade machen, weil keiner von uns genug davon kriegen kann.
Wir erzeugen ein buntes, wirbelndes, psychedelisches Soundgewebe, bei dem jeder einzelne Ton seinen Beitrag zum großen Ganzen leistet. Ich hab eigentlich gar keine Erfahrung mit dieser Art von Musik, ich meine, die Burst Frenchies haben viel konventionellere und eingängigere Sachen gespielt, aber gerade hab ich das Gefühl, vom Boden abzuheben. Zum einen, weil die Musik mich als Zuhörer in einen wahren Rauschzustand bringt, und zum anderen, weil ich selbst ein Teil davon bin. Ich mache diese Klänge! Das ist so endgeil!
N icks Beerdigung fand separat von all den anderen statt. Einen Tag vorher und auf einem kleinen Friedhof in Dülken. Ich hätte meinen Bruder gern noch mal gesehen, aber das ging nicht. Er lag in einem geschlossenen Sarg aus kotzbraunem Holz mit verschnörkelten Messinggriffen und einem scheußlichen Blumenbouquet in Rot-Weiß obendrauf, das mich an die Blutspritzer auf der Schulwand erinnerte. Ich war fast erleichtert, als diese Ausgeburt der Hässlichkeit in der Grube verschwand. Und ich entschuldigte mich im Geiste bei Nick, dass ich mich nicht um die Details gekümmert hatte. Ich hätte ihm echt was Besseres für seinen letzten Weg gewünscht.
Eine Beerdigungsfeier im eigentlichen Sinne gab es nicht. Wir fuhren zur Leuther Mühle und bestellten Kaffee und Kuchen, aber wir waren noch nicht mal zu zehnt. Meine Oma war aus Wiesbaden gekommen und brauchte ziemlich viel Aufmerksamkeit, weil sie das so gewohnt war und praktisch nichts mehr alleine konnte. Zwei Freundinnen meiner Mutter waren angereist. Uwe war natürlich da. Und das war’s auch schon.
Als mein Opa vor vier Jahren gestorben war, da konnten wir wenigstens die ganze Zeit über ihn reden und immer sagen: «Wenn er jetzt dabei wäre, das würde ihm gefallen.» Der Gedanke hatte was Tröstliches. Ich war während seiner Beerdigung ganz sicher, dass er von oben auf uns runterguckte und zufrieden grinste, so wie er das auch zu Lebzeiten oft getan hatte.
Jetzt funktionierte das nicht. Dominik zu erwähnen war wie der Gang über ein Minenfeld. Wir wussten nichts über ihn. Alles, woran wir jemals geglaubt hatten, war über den Haufen geworfen. Er hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes in eine völlig neue Dimension geschossen, zu der wir keinen Zutritt hatten, und deshalb war er als Fremder gestorben. Und hatte uns als ahnungslose Trottel zurückgelassen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er uns von irgendwo zusah – höchstens, dass er sich genervt abwendete. Wir konnten uns keinen Trost herbeireden, weil es keinen gab.
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W enn nicht irgendwann Toshis Handy geklingelt hätte, wer weiß, ob wir je aufgehört hätten zu spielen. Aber da ist es auch schon halb elf nachts. Ich kriege einen Riesenschreck. Mein Vater weiß zwar, dass ich zur Probe bin, aber er ist bestimmt nicht davon ausgegangen, dass sie so lange dauert – ich übrigens auch nicht. Toshi führt nur ein kurzes Gespräch und ist anschließend sehr nervös. «Tut mir leid, ich muss los», sagt er und packt sein Keyboard ein.
Komischer Typ, echt. Er ist ein paar Jahre älter als ich, aber offenbar wahnsinnig schüchtern. Die meiste Zeit lässt er sich die Haare so ins Gesicht hängen, dass bestenfalls noch die Nasenspitze rausguckt, und wenn er überhaupt mal spricht, ist seine Stimme ganz leise. Aber spielen kann er, das muss man ihm lassen. Ich glaube, er ist einer von den Menschen, die nur beim Musikmachen überhaupt lebendig werden.
A n der Beerdigung der siebzehn Opfer nahmen wir nicht teil. Ich wäre gerne hingegangen. Schon wegen Melody und Till, aber auch wegen der anderen. Ich meine, ich hatte alle gekannt, jeden Einzelnen, sogar die Toten aus Nicks Klasse, wenn auch zum Teil nur vom Sehen. Ich wollte mich vernünftig von ihnen verabschieden. Aber das ging nicht. Die Angehörigen hätten mich noch vor dem Friedhofstor gelyncht. Und ich hätte es sogar verstanden.
Ich schlich mich am nächsten Morgen ganz früh zum Friedhof und wurde zwar von einem Kamerateam verfolgt, aber wenigstens nicht von Hinterbliebenen zusammengeschlagen. Natürlich lagen die Gräber
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