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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Delia
brauchte ein Weilchen, ihr Knöchel schmerzte. Sie rief: »Ich dachte, sie hätten
zugesagt, daß er nach seiner Hochzeit bleiben könne.«
    »Das war, bevor sie
herausgefunden haben, daß seine Frau was Kleines erwartet«, sagte Ellie.
    Delia blieb wie vom Blitz
getroffen auf der Veranda stehen und starrte Ellie an. Selbst Noah starrte sie
an. »Erwartet was?« fragte Delia töricht.
    »Raten Sie mal, Delia! Was
meinen Sie, warum sie die Hochzeit auf März vorverlegt haben?«
    »Weil... haben sie Ihnen das
selbst erzählt? Oder ist es eine Vermutung?«
    »Sie haben es mir, verdammt
nochmal, selbst erzählt«, sagte Ellie. »Haben es an die große Glocke gehängt,
letzte Woche. Papa fragt Binky: ›Engelchen? Erzählst du unsere Neuigkeiten oder
ich?‹ und Binky sagt: ›Ach, mach’ du’s lieber, mein Goldschatz.‹ Soll das ein
Witz sein? Ich finde solche Gespräche dermaßen daneben! Es ist doch die zweite
Ehe! Also räuspert Papa sich und meint: ›Ellie‹, sagt er, ›Ellie, du bekommst
eine Schwester.‹ Also ich kapiere nicht so schnell, sage: ›Ich habe schon ‘ne Schwester.
Mehrere.‹ Er: ›Ich meine, noch eine. Wir sind schwanger.‹ Genau so. Wir! So hat
er sich die ersten vier Male garantiert nicht ausgedrückt!«
    »Aber... wann denn?« fragte
Delia.
    »September.«
    »September!«
    Ellie segelte majestätisch ins
Haus. Delia stand mit offenem Mund auf der Veranda. Binky war immer klein und
rundlich gewesen, hatte immer einen kleinen Bauch gehabt, aber... Sie sah Noah
an. »Hast du das gewußt?« fragte sie.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Na dann«, sagte sie. »Dann hast
du bald ein Baby als Tante! Stell dir das vor!«
    Während sie durch die Tür
hinkte, hörte sie Ellie humorlos vor sich hin meckern.
    Delia war zum ersten Mal bei
Dr. Norman, obgleich seine Telefonnummer bei den Millers neben dem
Küchentelefon hing. Kaum roch sie die unverkennbare Mischung aus Bohnerwachs
und Desinfektionslösung, überkam sie ein heimatliches Gefühl — als sei sie an
ihren angestammten Ort zurückgekehrt; als sei jeder andere Ort ein Surrogat und
nur vorübergehend, ihrer eigentlichen Natur fremd. Sie blieb wie angewurzelt im
Eingang stehen (abgetretener Orientteppich, Lampe mit chinesischem
Porzellanfuß), bis Ellie sie am Arm nahm und in Richtung Wartezimmer schob.
»Ist er Ja?« fragte sie die Frau am Schreibtisch. Die Frau war viel älter als Delia
und fünfzig Pfund schwerer, trotzdem konnte sich Delia in ihre Flaut versetzen,
wie sie da auf der Schreibmaschine mit den chromgefaßten Tasten schrieb. »Wir
haben hier einen Unfall!« erklärte Ellie.
    Oh, ja, der Unfall. Den hatte
Delia fast vergessen. Während Ellie die näheren Umstände beschrieb (»scharfe
Metallkante am... konnte nichts tun... wollte sie noch warnen, aber...«),
wickelte Delia das Sweatshirt von ihrer Stirn und stellte fest, daß es nicht
mehr blutete. Die Blutflecken auf dem Hemd waren mittlerweile stumpf
schwarzrot. Sie betrachtete die übrigen Patienten. Zwei Frauen und ein kleines
Mädchen beobachteten sie neugierig, und hastig packte sie wieder das Sweatshirt
an die Schläfe.
    Dr. Norman beendete gerade ein
Telefongespräch, als die Sprechstundenhilfe sie hineinführte. Er war ein
gedrungener Mann mit weißer Löckchenkrause über den Ohren. »Was haben wir denn
da?« fragte er, stand auf und verließ seinen Schreibtisch, um mit geübtem Griff
das Sweatshirt abzuwickeln. Sein Atem roch nach Pfeifentabak. Am liebsten hätte
Delia seine Hand gehalten und inniglich an ihre Wange gedrückt. »Hmm«, meinte
er, als er die Bescherung sah. »Na, ja, sterben werden Sie nicht.«
    »Behalte ich eine Narbe?«
fragte Delia.
    »Unwahrscheinlich. Schwer zu
sagen, bevor ich es nicht ausgewaschen habe.«
    »Ich habe natürlich mein
Menschenmöglichstes getan«, sagte Ellie. »Habe sie gewarnt und nochmal gewarnt.
›Paß beim Einsteigen auf, Dee‹, habe ich gesagt; nicht einmal, ein halbes
Dutzendmal — «
    Dr. Norman meinte eine Idee
ungeduldig: »Schon gut, Ellie, ich weiß«, und Ellie schwieg. »Kommen Sie mit
nach nebenan«, sagte er zu Delia. Er führte sie in den Nebenraum. Ellie und
Noah folgten ihnen, was vielleicht nicht der Sinn der Sache war.
    In diesem zweiten Raum stand
der Untersuchungstisch, der Lederbezug war rissig schwarz. Delia rutschte aufs
Fußende und hielt ihre Handtasche auf dem Schoß. Während Dr. Norman eine
kondensmilchweiße Metallschublade öffnete, fragte er Ellie, wie das Wetter
würde; er fragte Noah nach

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