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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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große
Stunde«, sagte Linda. »Endlich kann er im Haus schalten und walten, wie er
will.«
    Delia erwiderte nichts. Linda
warf ihr einen vielsagenden Blick zu, dann traten sie an den väterlichen
Schreibtisch. Sie lehnte gegen den Spiegel darüber und fuhr sich mit den
Fingern durch ihr kurzes braunes Haar. Dann legte sie ihre Schultertasche ab,
die sie an ihrem Riemen quer über die Brust trug — eine weitere ihrer typisch
europäischen Moden. Niemand würde sie für eine Amerikanerin halten. (Niemand
käme auf die Idee, daß sie in Michigan wohnte, geschieden von einem
französischen Literaturprofessor, der sie schließlich doch nicht in seine
Heimatstadt Paris entführt hatte.) Ihr rundes, weiches Gesicht war hell
gepudert, der einzige Farbtupfer in ihrem Make-up ein klebrig glänzender,
scharlachroter Lippenstift, und obwohl ihre Kleidung nicht besonders auffiel,
trug sie diese mit enormer Würde — ihre durchgelaufenen halbhohen braunen
Pumps, zum Beispiel, die sie allem zum Trotz zu ihrem marineblauen Kostüm trug.
»Wieso stehen wir hier noch? Keine Ahnung, was Marie-Claire und Thérèse schon
wieder aushecken«, sagte sie; die Rs in den Kindernamen klangen wie gegurgelt;
und als sie an Delia vorbei zur Treppe rauschte, roch sie nach Flugzeug.
    In der Küche stießen sie auf
Eliza, die den Kindern eine Limonade machte. In diesem Herbst würden die
Zwillinge neun — ein schlaksiges, staksiges Alter — , und obwohl sie den gleichen
dichten braunen Kurzhaarschnitt wie ihre Mutter trugen, glichen sie in allem
anderen dem Professor. Sie hatten fast schwarze Augen, einen melancholischen
Blick, pflaumenfarbene Münder. Sie halfen sich gegenseitig zu den Oberschränken
mit den Glastüren hoch, die erste zog die zweite, als sie die Arbeitsplatte
erreicht hatte, und um besser klettern zu können, hatten sie die Röcke ihrer
altmodischen, europäisch anmutenden Schulmädchenkleider in ihre Unterhosen
gestopft, wodurch sie noch langbeiniger aussahen.
    »Wenn eure Kusine Susie
auftaucht, fährt sie mit euch ins Schwimmbad«, sagte Eliza. Sie stand an der
Spüle und preßte Zitronen aus. »Sie hat versprochen, es als allererstes zu tun,
aber anscheinend ist sie mit ihrem Freund unterwegs.«
    Die Erwähnung eines Freundes
lenkte sie einen Augenblick ab. »Driscoll?« fragte Marie-Claire und hielt im
Klettern inne. »Geht Susie noch mit Driscoll?«
    »Allerdings.«
    »Gehen sie zusammen tanzen?
Küssen sie sich beim Gutenachtsagen?«
    »Da kenne ich mich leider nicht
aus«, sagte Eliza prüde und bückte sich, um einen Krug aus dem Unterschrank zu
holen.
    Die Zwillinge hatten ihr Ziel
erreicht: ein Glas Pfefferminzbonbons ganz hoch oben. Stück für Stück schob
Thérèse es durch die halbgeöffnete Schranktür. Thérèse war der Zwilling, dessen
Züge nicht so wohlproportioniert waren, ihr Gesicht schien nicht ganz
ebenmäßig, nicht ganz symmetrisch, wirkte dadurch ein bißchen schreckhaft. (Das
war oft so bei Zwillingen, fand Delia.) Einen Augenblick schien das Glas in der
Luft zu hängen, aber dann landete es heil in Marie-Claires ausgestreckten
Händen. »Sind Ramsay und Carroll auch verliebt?« fragte sie.
    »Ramsay schon, muß ich leider
sagen.«
    »Wieso leider?« fragte Thérèse,
und Marie-Claire sagte: »Was ist mit seiner Freundin?« — beide so gierig nach
Klatsch, daß Delia laut lachte. Thérèse schwenkte herum und sagte: »Sagst du
auch: leider, Tante Delia? Bist du dagegen, daß sie dein Nest beschmutzt? Kommt
sie mit ans Meer?«
    »Nein«, sagte Delia und beantwortete
nur die leichte Frage. »Ans Meer fährt nur die Familie.«
    Sie wollten früh am nächsten
Morgen, einem Sonntag, für eine Woche ans Meer fahren. Das taten sie jedes
Jahr. Mitte Juni, sobald es Schulferien gab, kam Linda aus Michigan, und sie
fuhren zusammen in ein Cottage, das sie an der Küste von Delaware mieteten.
Schon türmten sich auf der Veranda Schlauchboote und Federballschläger; in der
Kühltruhe stapelten sich Töpfe mit vorgekochtem Eintopf; und Sams Patienten
kamen in Scharen, um sich in letzter Minute von ihm behandeln zu lassen, damit
sie seinen Vertreter nicht behelligen mußten.
    »Delia, kannst du den Zucker
holen?« fragte Eliza. Sie ließ Wasser in den Krug laufen. »Und, Mädchen, ich
möchte aus dem Schrank rechts fünf hohe Gläser.«
    Während Delia Zucker abmaß, sah
sie heimlich auf die Uhr an der Wand. Zehn vor vier. Sie warf einen Blick auf
die Zwillinge und räusperte sich: »Wenn Susie noch nicht da ist

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