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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Maxwell hat mir erzählt, daß sie dein
allererster Hausbesuch waren.«
    »Tatsächlich?«
    »An deinem zweiten Tag hier.«
    »Er sagt, er hätte damals
gefragt, welches Felson-Mädchen du heiraten wolltest, und du hättest erklärt,
die Jüngste.«
    »Hmm«, sagte Sam und zog den
Reißverschluß seiner Tasche auf. Er überprüfte den Inhalt und meinte: »Delia,
kannst du mich morgen früh daran erinnern, daß ich noch —«
    »›Die Älteste ist zu kurz
geraten und die Mittlere zu rund‹, hättest du gesagt, ›aber die Jüngste ist
gerade richtig.‹«
    Sam lachte.
    »Hast du das gesagt?« fragte
sie.
    »Oh, Süße, wie kann ich das
noch wissen nach all den Jahren?«
    Sie fuhr in ihre Einfahrt und stellte
den Motor ab. Sam öffnete seine Tür, doch dann begriff er, daß sie sich nicht
rührte, und sah sie an. Das Lämpchen an der Decke zeichnete tiefe Höhlen in
sein Gesicht.
    »Also hast du es gesagt«,
erklärte sie. »Es klingt auch nach dir — du drückst dich gern märchenhaft aus.«
    »So? Vielleicht«, sagte er.
»Gott, Dee, ich habe nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Vielleicht habe
ich ›zu kurz‹ und ›zu rund‹ gesagt, aber womöglich habe ich gemeint ›zu
unkonventionell‹ und zu ›frankophil‹.«
    »Das meine ich nicht«, sagte
Delia.
    »Wieso nicht, Linda hat
schließlich den halben Abend französisch gesprochen, erinnerst du dich? Und als
dein Vater sie bat, wieder Englisch zu reden, hatte sie immer noch einen
Akzent.«
    »Du weißt nicht einmal, wogegen
ich etwas habe?« fragte Delia.
    »Nein«, sagte Sam, »ich weiß es
nicht.«
    Sie stieg aus dem Wagen und
ging auf die Hintertreppe zu. Sam ging und stellte seine Tasche wieder in den
Buick; sie hörte den Kofferraumdeckel zuschlagen.
    »Und Eliza!« sagte er und ging
hinter ihr her zum Haus. »Sie wollte unbedingt wissen, was ich von Homöopathie
halte.«
    »Du bist hierhergekommen und
hast vom ersten Tag an vorgehabt, eines der Felson-Mädchen zu heiraten«, sagte
ihm Delia ins Gesicht.
    Sie hatte jetzt die Tür
aufgeschlossen, trat aber nicht ein, sondern sah ihn an. Er blickte mit
gerunzelter Stirn auf sie herab.
    »Sicher ist mir das
wahrscheinlich durch den Kopf gegangen«, sagte er. »Damals war ich gerade mit
der Ausbildung fertig. Ich war alt genug zu heiraten, sozusagen. Im heiratsfähigen
Alter.«
    »Aber wieso dann keine
Krankenschwester oder Kommilitonin, oder irgendein Mädchen, das deine Mutter
kannte?«
    »Meine Mutter?« sagte er. Er
blinzelte.
    »Du hattest ein Auge auf Vaters
Praxis geworfen, darum«, erklärte sie. »Du dachtest, ich heirate einfach eine
der Töchter von Dr. Felson und erbe alle seine Patienten und sein nettes altes
gemütliches Haus.«
    »Sicher, mein Schatz,
wahrscheinlich habe ich das gedacht. Wahrscheinlich. Aber nie hätte ich eine
Frau geheiratet, die ich nicht liebe. Ist es das, was du glaubst? Du glaubst,
ich hätte nicht aus Liebe geheiratet?«
    »Ich weiß nicht, was ich
glaube«, antwortete sie.
    Dann machte sie kehrt und ging
wieder die Treppe hinunter.
    »Dee?« rief Sam.
    Sie ging, ohne ihr Tempo zu
verlangsamen, am Wagen vorbei. Die meisten Frauen wären davon gefahren, sie ging lieber. Die Sohlen ihrer flachen Schuhe knirschten auf der
asphaltierten Einfahrt; ihre gleichmäßigen Schritte klangen bedeutungsvoll,
erinnerten sie an irgendeine Melodie, die sie fast, aber nur beinah, hätte
nennen können. Einerseits horchte sie, was Sam unternahm (sie konnte ein Ohr
nach hinten stellen, wie eine Katze), aber andererseits war sie froh, daß sie
ihn los war, und zufrieden, daß sich ihre Meinung über ihn bestätigt hatte. Sieh
dir das an, er macht nicht die geringsten Anstalten, mir nachzukommen. Sie
gelangte zur Straße, bog nach rechts und ging weiter. Ihr schwachumrissener
Schatten lief ihr voraus, schwenkte dann nach hinten und fiel zurück, während
sie von Straßenlaterne zu Straßenlaterne zog. Ihr war nicht mehr kalt. Die Wut
wärmte sie.
    Jetzt verstand sie, wieso Sam
nicht mehr wußte, wann er sie tatsächlich zum erstenmal gesehen hatte. Er hatte
vorgehabt, die Felson-Mädchen als Geschenkpackung en gros zu begutachten, das
war’s. Dabei war nicht vorgesehen, ein dazugehöriges Einzelstück vorab unter
die Lupe zu nehmen. Das Ereignis am Abend zählte, die heiratsfähigen
Mädchen, eins, zwei, drei, ausgestellt, aufgereiht auf dem Wohnzimmersofa. Sie
brauchte nur die richtige Perspektive, um sich die Szene zu vergegenwärtigen:
die kratzigen roten Plüschpolster, ihr

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