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Kleine Einblicke

Kleine Einblicke

Titel: Kleine Einblicke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mathilda Grace
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Augen weit aufgerissen. David steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch und ich tue das Einzige, was ich jetzt für ihn tun kann.
    „Ich übernehme das“, sage ich zur Schwester und sie nickt.
    „Folgen Sie mir bitte.“
    Der Weg nach unten ist endlos. Zumindest kommt es mir so vor. Die Schwester geht voran und scheint zu spüren oder zu wissen, dass ich jetzt nicht reden will, denn sie schweigt, wirft nur ab und zu einen kurzen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob ich noch hinter ihr bin. Uns begegnen viele Menschen. Weinende und stoisch vor sich hinstarrende Menschen jeden Alters. Sind die Gänge der Leichenhalle immer so überlaufen?
    „Eigentlich nicht“, sagt die Schwester leise und macht mir klar, dass ich offenbar laut gedacht habe. „Es gab heute Abend einen sehr schweren Unfall auf dem Highway. Wir warten immer noch auf die letzten To...“ Sie unterbricht sich räuspernd. „Tut mir leid.“
    Ich nicke nur. Sie hat Tote gemeint. Tote, die Freunde, Familien, Kinder und Haustiere haben. Tote wie Adrian.
    „Hi Becky“, sagt ein alter Mann an einem mit Akten überfüllten Schreibtisch, nachdem die Schwester eine Tür aufgemacht und mir den Vortritt gelassen hat.
    „Hi Randy. Weißt du, wo Adrian Quinlan liegt?“
    „Der tote Anwalt?“ Randys Blick schweift von Becky zu mir und wieder zurück. „Bist du sicher, dass...?“
    „Randy“, unterbricht sie ihn rigoros und er seufzt, bevor er auf den Bildschirm sieht. „Nummer zwölf und Nummer eins.“
    „Danke“, sagt Becky und deutet mir an, ihr weiter zu folgen.
    Sie führt mich durch eine weitere Tür, wo ein Regal steht, das mit Kartons gefüllt ist. Zielsicher hebt sie den Zwölften heraus und stellt ihn auf den kleinen Tisch, der neben der Tür steht. Ich sehe ihr schweigend zu, wie sie den Deckel öffnet und eine Tüte herausnimmt. Sie reicht sie mir und räuspert sich leise.
    „Wollen Sie sich vielleicht von ihm verabschieden?“
    Will ich das? Ja. Nein. Keine Ahnung. Doch. Ja, das will ich. Unbedingt. Ich will Adrian wenigstens noch einmal sehen. „Ja.“
    Becky nickt, zögert dann aber sichtlich. „Sehen Sie nur sein Gesicht an, okay? Der Rest... Die Kugeln...“
    Ich weiß, was sie zu sagen versucht. Was die Polizisten mir vorhin unter sechs Augen gesagt haben, nachdem David es nicht länger aushielt und Dominic und Cameron mit ihm rausgegangen sind. Dass der Mistkerl, den Adrian verteidigen wollte, ein volles Magazin leer geschossen hat, was in diesem Fall fünfzehn Patronen waren. Und dass der Staatsanwalt in Gesicht, Hals und Bauch getroffen wurde, aber im Gegensatz zu Adrian Glück hatte und noch lebt.
    Becky geht schweigend voraus und die plötzliche Kühle in der Leichenhalle lässt mich frösteln. Es liegen zwölf Tote unter Tüchern in dem Raum und am liebsten würde ich umgehend kehrtmachen und weglaufen. Weit weg. Aber ich kann nicht. Wenn ich es nicht tue, wer sonst? David würde es nicht schaffen und ich will nicht, dass Tristan oder sonst jemand aus der Familie es tun muss.
    Ich beantworte Beckys fragenden Blick mit einem Nicken und sie zieht das Laken über der ersten Leiche ein Stück zurück. Ich ziehe entsetzt die Luft ein, als sein Gesicht zum Vorschein kommt. Blondes Haar, voller Blut. Mein Gott. Die Augen sind offen. Scheinbar hatte noch niemand Zeit sie zu schließen. Im Gerichtsgebäude muss nach der Schießerei das reinste Chaos geherrscht haben.
    Wieso hat es keiner gemerkt?
    Es sind braune Augen, die leblos zur Decke starren. Nicht die blaugrauen von Adrian, in die ich mich vor so vielen Jahren verliebt habe. Das ist Craig, der Staatsanwalt. Ich kannte ihn. Gut sogar. Ich habe ihn und Adrian immer damit aufgezogen, dass sie sich ähnlich sehen. Wie soll ich das seiner Frau Tracy und ihren Kindern beibringen?
    „Das ist nicht Adrian.“
    „Was?“, fragt Schwester Becky entsetzt.
    „Das ist Craig MacAllister, der Staatsanwalt.“
    „Sind Sie sicher? Aber er...“ Becky sieht auf den Toten. „Oh mein Gott, und wir dachten... Ich muss sofort...“
    Sie deutet nach draußen und ich nicke, worauf sie nach draußen läuft und wenig später das Klappen von weiteren Türen zu hören ist, bevor Ruhe einkehrt. Becky wird den Ärzten und der Polizei sagen, dass hier eine Verwechslung vorliegt und Adrian nicht tot ist.
    Himmel, David. Er muss es sofort erfahren. Aber vorher muss ich noch etwas anderes tun.
    „Leb' wohl, Craig“, murmle ich und schließe meinem toten Freund die Augen, bevor ich die Leichenhalle

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