Kleine Einblicke
fällt mir sogar heute noch ab und zu schwer. Connor erinnert mich so sehr an mich selbst, als ich damals nach meiner Entführung im Krankenhaus aufwachte und es ist nicht leicht, mit diesen Erinnerungen umzugehen. Es gibt Tage, da gelingt es mir nicht und ich bringe es nicht über mich, Connors Zimmer zu betreten, obwohl ich mich dafür schäme. An solchen Tagen stehe ich Stunde um Stunde vor der Scheibe, die ihn von mir trennt und sehe zu, wie die Maschinen für ihn atmen, weil er selbst es nicht kann. Vielleicht nie mehr können wird.
Seine Verletzungen sind mittlerweile gut verheilt. Die Brüche in seinen Beinen brauchen noch Zeit, aber im Großen und Ganzen geht es Connors Körper wieder gut. Wie es mit seiner Persönlichkeit und vor allem seinem Gehirn aussieht, das weiß keiner. Das Trauma ist weg, die Schwellung in seinem Kopf ebenfalls. Seine Ärzte wissen nicht, warum er weiterhin im Koma liegt und sie wissen auch nicht, ob er sich, sollte er jemals wieder aufwachen, überhaupt an etwas erinnern kann. Sie machen ständig neue Tests mit ihm, bislang ohne Erfolg. Seit zwei Monaten liegt Connor einfach so da und schläft einen Schlaf, der ihn irgendwann wohl umbringen wird.
Und alles nur meinetwegen, weil ich arbeiten musste.
Vor zwei Monaten ist meine kleine, heile Welt zusammengebrochen und seither steht sie still. Mein Leben ist ein ständiger Wechsel zwischen der Arbeit, dem Krankenhaus und Connors ehemaligem Zimmer geworden. Ich funktioniere, dafür sorgen Will und Rachel, denn bei ihnen lebe ich seither und sie kümmern sich auch um Zeke, weil mir die Kraft dafür fehlt, aber alles andere gibt es nicht mehr. Keine Spaziergänge im Mondschein, kein langer Kinoabend mit Shane, keine Treffen mit Tristan und Nick oder David und Adrian.
Aber sie sind da. Die Familie und unsere Freunde. Sie sind immer da. Wechseln sich ab. An jedem Wochenende und auch zwischendurch. Sie regen mit Mareike, die sich um Connors und mein Haus kümmert, sie reden über Connor, sofern es etwas Neues zu bereden gibt, aber vor allem reden sie in letzter Zeit über mich.
Sie machen sich Sorgen und ich weiß warum. Es gibt Anzeichen und ich war früher lange genug ein seelisches Wrack, um zu begreifen, dass ich in großen Schritten auf einen Zusammenbruch zusteuere. Will beobachtet mich regelmäßig. Wann er damit angefangen hat, ist mir entgangen, bemerkt habe ich es erst vor einigen Tagen. Ich war mir anfangs nicht einmal sicher, ob ich mir seine Blicke nicht nur einbilde, aber gestern Abend saß Nick neben Will und Rachel in der Küche am Tisch, als ich von der Arbeit kam, und da wusste ich es. Als ich Nick auf Connors Platz sitzen sah, eine Kaffeetasse in der Hand und sein mitfühlender Blick auf mich gerichtet, wurde mir klar, dass er weiß, dass ich mir die Schuld gebe.
Ich gebe mir die Schuld an Connors Unfall. An etwas, das niemand beeinflussen kann. An miesen Umständen, wie dem verdammten Nebel, und der Tatsache, dass Mareike genau an diesem Morgen hier landen und abgeholt werden musste. Mareike. Die seit zwei Monaten bei uns ist und mit der ich keine zehn Worte gesprochen habe. Meine eigene Schwester. Die sehr lange Zeit glaubte, dass ich tot bin, weil ich vor vielen Jahren aus purer Angst meine Heimat verlassen habe, um hier wieder neu anzufangen. Das habe ich auch getan. Ich habe ein neues Leben begonnen und ich habe Connor gefunden. Jenen Mann, den ich mit allem liebe, was ich bin, und von dem ich bislang dachte, dass wir zusammen alt werden würden. Kitschig, nicht? Stattdessen werde ich wohl allein alt werden. Allein. Eine Vorstellung, die so fürchterlich für mich ist, dass sie mir langsam aber sicher meine Kehle abschnürt.
Niemand hat es laut zu mir gesagt, aber ich habe Ohren und auch wenn ich derzeit völlig übermüdet bin, laut Will schon wieder viel zu dünn und überhaupt völlig fertig, kann ich immer noch hören und das gut. Ich habe gehört, als ich gerade auf dem Weg nach Hause war, wie sich zwei Krankenschwestern während einer Raucherpause draußen in strömendem Regen darüber unterhalten haben, dass die Ärzte darüber nachdenken, Connors lebenserhaltende Maschinen abzuschalten. Ihn einfach sterben zu lassen, als wäre er nur noch ein Ding. Eine Lampe mit einem Ein- und Ausschaltknopf.
Unnütz. Sinnlos. Ohne eine Funktion. So wie ich. Mein Leben ist zu einem zerstörten Etwas geworden und ich finde keinen Anfang, um es wieder zusammenzusetzen. Ich müsste mit Mareike reden, aber ich tue es
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