Kleine Freie Männer
den großen Raum aufzusuchen, Kelda?«, fragte er leise. »Wir haben Dinge zu tun, du weißt ja, wie das ist …«
Tiffany nickte, kroch vorsichtig zurück und spürte, wie ihr Kobolde auswichen. Sie fand eine Ecke, wo sie
niemandem im Weg zu sein schien, und saß dort mit dem
Rücken an der Wand.
Sie hatte mit einem vielstimmigen ›Schlimm, schlimm,
schlimm‹ gerechnet, aber der Tod der Kelda schien dafür zu ernst zu sein. Einige Größte weinten, anderen starrten ins Leere. Als sich die Neuigkeiten herumsprachen, füllten sich die Galerien mit kummervoller, schluchzender Stille …
… die Hügel waren still gewesen an dem Tag, als Oma Weh starb.
Jemand ging jeden Tag mit frischem Brot und Milch und Resten für die Hunde hinauf. So oft war das gar nicht nötig, aber Tiffany hatte ihre Eltern sprechen gehört, und ihr Vater hatte gesagt: »Wir sollten sie jetzt im Auge behalten.«
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An diesem Tag war Tiffany dran, aber sie hatte diese Aufgabe nie als Arbeit gesehen. Sie mochte die Reise.
Sie bemerkte die Stille. Es war nicht mehr die Stille vieler kleiner Geräusche, sondern eine Kuppel aus Stille um die Hütte herum.
Da wusste sie Bescheid, noch bevor sie durch die offene Tür eintrat und Oma auf dem schmalen Bett fand.
Kälte breitete sich in ihr aus, und sie hatte sogar ein Geräusch, wie ein dünner, scharfer Ton. Und sie hatte auch eine Stimme. Ihre eigene Stimme. Sie sagte: Es ist zu spät, Tränen nützen nichts, keine Zeit, etwas zu sagen, Dinge müssen getan werden …
Und … dann fütterte sie die Hunde, die geduldig auf ihr Frühstück warteten. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie sich rührselig verhalten, wenn sie gejault oder Omas Gesicht geleckt hätten, aber sie saßen einfach nur da. Und Tiffany hörte noch immer die innere Stimme: keine Tränen, nicht weinen. Weine nicht um Oma Weh.
Im Kopf beobachtete sie jetzt die etwas kleinere Tiffany, wie sie mit marionettenhaften Bewegungen durch die Hütte ging …
Sie räumte auf. Abgesehen vom Bett und dem
Kanonenofen gab es dort nicht sehr viel: den
Kleidungssack, das große Wasserfass, die Lebensmittel-kiste, das war es auch schon. Und überall lagen Sachen, die mit Schafen zu tun hatten – Töpfe, Flaschen, Beutel, Messer und Scheren –, aber nichts wies darauf hin, dass hier eine Person lebte, es sei denn, man berücksichtigte die vielen blauen und gelben Päckchen des Fröhlichen
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Seemanns, die an der einen Wand festgesteckt waren.
Tiffany hatte eins davon genommen – es lag noch immer unter ihrer Matratze zu Hause –, und sie erinnerte sich an die Geschichte.
Es war sehr ungewöhnlich, wenn Oma Weh mehr sprach als nur einen Satz. Sie verwendete Worte, als wären sie Geld. Aber eines Tages, als Tiffany Essen zur Hütte brachte, erzählte ihr Oma eine Geschichte. Eine Art Geschichte. Sie öffnete ein Päckchen Tabak und richtete einen leicht verwirrten Blick auf Tiffany und sagte: »Ich habe dies schon tausendmal gesehen, doch das Schiff habe ich nie bemerkt.«
Natürlich war Tiffany zu ihr geeilt, um das Bild zu betrachten, aber sie konnte das Schiff ebenso wenig erkennen wie die nackte Frau.
»Weil das Schiff dort ist, wo man es nicht sieht«, hatte Oma gesagt. »Er hat ein Schiff, um den großen weißen Wal im salzigen Meer zu jagen. Er jagt ihn immer, um die ganze Welt. Er heißt Mopi. Er soll so groß sein und so weiß wie eine Kreideklippe. Das habe ich in einem Buch
gelesen.«
»Warum jagt der Seemann ihn?«, hatte Tiffany gefragt.
»Um ihn zu fangen«, hatte Oma geantwortet. »Aber das wird ihm nie gelingen, weil die Welt rund ist wie ein großer Teller, und auch das Meer, und so jagen sie sich
gegenseitig, und es ist fast so, als jagte er sich selbst. Geh nie zum Meer, Jiggit. Dort geschehen schlimmere Dinge.
Das sagen alle. Bleib hier, wo du die Hügel in den Knochen hast.«
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Und das war es. Es war eine der wenigen
Gelegenheiten, bei denen Oma Weh zu Tiffany über etwas gesprochen hatte, das nicht direkt Schafe betraf. Nur dieses eine Mal hatte sie eingeräumt, dass es eine Welt jenseits des Kreidelands gab. Tiffany träumte vom Fröhlichen Seemann, der mit seinem Schiff den weißen Wal jagte. Und manchmal jagte der Wal sie, aber der Fröhliche Seemann kam immer rechtzeitig mit seinem großen Schiff, und dann begann die Jagd erneut.
Manchmal war sie zum Leuchtturm gelaufen und
erwachte genau in dem Moment, als die Tür aufschwang.
Das Meer hatte sie nie gesehen, aber bei einem ihrer
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