Kleine Luegen erhalten die Liebe
vielleicht wieder hier, und dann können wir die zehn Zeilen durchgehen, die wir bis dahin auswendig gelernt haben, okay?«
Anna erwidert nichts, sie sitzt bloß ein wenig schwankend auf ihrem Barhocker, und so gibt Fraser ihr einen Kuss auf die Wange und geht. Inzwischen regnet es in Strömen, und bevor Fraser in den sommerlichen Platzregen hinaustritt, bleibt er unter dem Vordach des Pubs noch einmal stehen, um sich die Jacke über den Kopf zu ziehen.
Ausgerechnet da kommt Anna heraus.
»Fraser?«
»Komm her!«, sagt er. »Stell dich hier unter! Es gießt wie aus Eimern.«
Aber sie tritt nicht neben ihn, sondern geht um ihn herum, um vor ihm stehen zu bleiben, und bevor er etwas sagen kann, beugt sie sich vor und küsst ihn so hart und lange auf den Mund, dass er wie gelähmt ist und ihr nicht entkommen kann.
»Was zur Hölle … ?« Fraser weicht zurück und wischt sichmit dem Handrücken über den Mund, und Anna kommt ins Schwanken, verliert ein wenig den Halt auf der Stufe und taumelt zurück. Sie sieht ihn an, als hätte auch sie keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist. Der Regen wird so heftig, dass die Wassertropfen vom Boden abprallen und wieder in die Höhe springen. Anna stürzt plötzlich wortlos davon, rennt die von Laternen beleuchtete Straße hinunter und lässt Fraser im Regen stehen mit der Frage, was zum Teufel das gerade sollte.
KAPITEL SECHZEHN
August,
Lancaster
»Espero que todos tenham tido uma boa aula e desejolhes um bom fun de semana. O que vocês planejaram?«
(Übersetzung aus dem Portugiesischen: »Ich hoffe, dass ihr alle einen schönen Unterricht hattet, und wünsche euch ein schönes Wochenende. Was habt ihr an diesem Wochenende vor?«)
In einem muffigen Hinterzimmer der Lancaster Bibliothek steht Emilia Neves, eine über ein Meter zweiundachtzig große Brasilianerin aus dem Amazonasgebiet mit einer Haut wie poliertes Kupfer, leuchtend grünen Augen und einer dichten Mähne honigblonden Haares, vor ihrer stummen Klasse von sieben Schülern und denkt: Wie lange? Wie lange noch, bevor ich bei diesem verdammten Haufen von Schwachköpfen den Verstand verliere?
In der Ecke sitzt Mia, kaut an einem Fingernagel und erschaudert an Emilias Stelle, während sie sie gleichzeitig verwundert ansieht. Diese Frau ist erstaunlich. Sie hat die Geduld einer Heiligen. Emilia spricht sechs Sprachen. Mia weiß das, weil sie und Emilia als die einzigen beiden Frauen der Klasse einen guten Draht zueinander entwickelt haben. (Vielleicht hatte es sich unter den etwa fünfzig männlichen Singles in Lancaster herumgesprochen, dass eine Doppelgängerin des bekannten Models Giselle in der Bibliothek Sprachunterricht geben würde?) Emilias Vater ist einer der reichsten Männer Brasiliens, und doch hat sie Rio, das wundervolle Rio, dieStadt des Karnevals und Federkopfschmucks, gegen das hier eingetauscht: Freitagmorgen für Freitagmorgen verbringt sie nun in einer ungelüfteten, provinziellen Bibliothek in Nordwest-England, um ein paar Männern mittleren Alters Portugiesisch beizubringen. Sie muss ja total enttäuscht sein, denkt Mia. Und trotzdem ist Emilia noch da – die personifizierte Geduld mit ihrem sonnigen, ermutigenden Lächeln.
Mia nimmt jetzt schon seit vier Wochen an dem Portugiesisch-Unterricht teil. Eine Fremdsprache zu lernen ist eine ihrer Aufgaben von Livs Liste, und außerdem erscheint es ihr auch sehr vernünftig, die zweite Muttersprache ihres Sohnes zu erlernen. Es hat ihr ein Ziel gegeben, auf das sie sich konzentrieren kann, und meistens macht es ihr auch Spaß. Auf jeden Fall genießt sie diese Chance, ihren Verstand wieder gebrauchen zu können. Doch zusehen zu müssen, wie Emilia sich Woche für Woche damit abquält, diesen Schwachköpfen, die völlig betäubt von ihrer Schönheit sind, selbst die einfachsten Sätze beizubringen – das bringt Mia um.
Emilia wiederholt die Frage, und diesmal, wie auch sonst immer, hebt Mia die Hand.
»Ja, Mia?« Emilia ist die Erleichterung deutlich anzusehen.
»Espero ir às comproas no sábado e depois aos amigos para o almoço no domingo. Possivelmente, tambén no parque.«
(»Ich hoffe, am Samstag einkaufen und am Sonntag zu Freunden zum Lunch zu gehen. Vielleicht auch in den Park.«)
»Danke, Mia. Schön, wie du die Verben benutzt«, erwidert Emilia, und sie tauschen ihren raschen Blick mit erhobenen Brauen aus, der ihr Zeichen für gegenseitiges Verständnis ist. Mia war in der Schule nie eine Streberin, aber heute fragt sie sich,
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