Kleine Luegen erhalten die Liebe
will.
Im vergangenen Jahr, dem ersten nach Livs Tod, waren alle nach Peterborough zu Livs Grab gepilgert, bevor sie am Tag darauf bei Livs Eltern vorbeifuhren, um ihnen ihre Aufwartung zu machen. Doch das war allem Anschein nach keine gute Idee gewesen. Damals fiel es vor allem Ann, Livs Mutter, sehr schwer, die Freunde ihrer Tochter zu sehen, und obwohl es nie ausgesprochen wurde, hatten alle das Gefühl, dass sie in gewisser Weise ihnen die Schuld gab oder ihnen doch zumindest übelnahm, dass sie alle noch lebten und ihre Tochter nicht.
Mia konnte damals nicht mitfahren, weil Billy erst sechs Wochen alt war, und verbrachte die wahrscheinlich schlimmsten zwölf Stunden ihres Lebens in jener Nacht, als sie allein, in Tränen aufgelöst und plötzlich überwältigt von der Realität all dessen, was geschehen war, in ihrem dunklen Zimmer lag. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie so froh gewesen, die Sonne aufgehen zu sehen, wie am nächsten Tag.
Deshalb war Mia fest entschlossen, dass es dieses Jahr nicht so sein würde. Alles würde seinen gewohnten Gang gehen, und nur in aller Stille und ganz privat würde sie sich an Livs Leben erinnern und die wunderbare, kluge Frau und Freundin feiern, die sie gewesen war.
Natürlich haben alle heute Morgen miteinander telefoniert, um sicherzugehen, dass keiner in ein schwarzes Loch gefallen ist oder sich allein betrinkt, und bisher scheinen alle auf bewundernswerte Weise damit zurechtzukommen. Anna will mit Steve zu einem ihrer »Schweige-Wochenenden« in einem buddhistischen Kloster; Norm … na ja, es war nicht völlig klar, was Norm vorhatte, aber als Melody anrief, sagte sie, sie sei heute allein, und fragte, ob sie Mia nicht zu Livs Bank im Williamson’s Park begleiten könne? Und dorthin war Mia jetzt mit einem Picknick in ihrem Rucksack unterwegs. Und Fraser? Ach, Fraser! Er klang komisch, als sie ihn endlich erreichte, bevor sie zu ihrem Portugiesisch-Unterricht ging. Nicht wirklich deprimiert, aber gestresst und kurz angebunden, als hätte er es sehr eilig, wieder aufzulegen. Doch langsam gewöhnt sich Mia an Frasers wechselhafte Stimmungen, und heute ist alles erlaubt … Wahrscheinlich sitzt er ohnehin nur Händchen haltend und stumm wie ein Fisch mit Karen auf dem Sofa.
Und so fährt Mia durch die Straßen, in denen die Sonne von den Sandsteingebäuden zurückgeworfen wird; eine goldene Stadt voller Erinnerungen. Sie tastet in ihrer Jackentaschenach dem zusammengefalteten Brief, der inzwischen zerdrückt ist und Eselsohren hat, nachdem sie ihn fünf Wochen ununterbrochen mit sich herumgetragen hat. In diesen Wochen hat Mia eine Veränderung an sich bemerkt; sie kommt jetzt viel selbstbewusster und beherzter rüber, was mit Frasers Brief an sie zu tun haben mag. Was für eine blödsinnige Untertreibung!, denkt sie. Sie weiß , dass Frasers Brief allein das bewirkt hat.
Er schrieb, sie sei »eine wunderbare Mutter«. Niemand hat ihr das je gesagt, und wenn sie es sich recht überlegt, hat sie bisher nicht einmal gehört, sie sei eine »gute« Mutter. Da sie noch nie in irgendeiner Weise positiv beurteilt wurde, hat Frasers Brief ihr mächtig Auftrieb gegeben und sie viele Dinge in einem anderen Licht sehen lassen. Okay, manchmal muss sie sich für ein paar Sekunden in einem Zimmer einschließen, damit sie die Wand verfluchen kann statt Billy, aber sie gibt ihr Bestes, und wenn sie eine gute Mum ist, verdient sie auch etwas Besseres von Eduardo. Sie will nicht wie ihre Mutter sein und sich mit der Vorstellung abfinden, dass alle Männer Schufte sind und man sich deshalb genauso gut daran gewöhnen kann, dass auch der eigene einer ist. Und deshalb hat sie zum ersten Mal in ihrer Beziehung Regeln für Eduardo aufgestellt, weil sie allmählich härter wird:
Er wird sich zu festgesetzten Zeiten in der Woche um Billy kümmern, und nicht nur, wenn ihm danach ist. Bisher ist es eine Nacht am Wochenende, eine in der Woche gewesen, und jetzt ist noch der Freitagvormittag bis 2 Uhr nachmittags hinzugekommen, damit sie zum Portugiesisch-Unterricht gehen und sich danach noch ein bisschen Zeit für sich nehmen kann.
Er wird ihr 30 Pfund in der Woche für Billy geben – und da das weniger ist als die vom Jugendamt vorgeschriebenen fünfzehn Prozent seines Gehalts, findet Mia sich recht großzügig, was diese Regel anbelangt.
Er wird grundsätzlich rücksichtsvoller werden, hinter sich aufräumen, wenn er Billy bei ihr betreut, Toilettenpapier ersetzen, Milch kaufen und
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