Kleine Luegen erhalten die Liebe
bemerken, wenn Billy zu klein gewordene Sachen trägt und ihm dann etwas Neues kaufen. Er ist nicht Billys Tagesmutter, und man kann nicht der Babysitter seines eigenen Sohnes sein.
Das ist Mias neues Mantra, und sie ist sehr stolz darauf. Sie versteht nur nicht, warum sie nicht schon früher daran gedacht hat.
Das Komische ist, dass Eduardo keinen Widerspruch erhoben hat. Bisher scheint er sich an die Regeln zu halten, was Mia jedoch irgendwie nervös macht …
Während sie freihändig die Cheapside hinunterfährt und die warme Brise sie einhüllt, wiederholt sie sich in Gedanken noch einmal die Worte aus Frasers Brief, die sie natürlich längst auswendig kennt.
Es besteht kein Zweifel, dass dieser Brief der Beschleuniger der laufenden Veränderungen war, aber es sind auch die ersten netten, ernsthaften Worte, die Fraser ihr je gesagt oder geschrieben hat. Er hat im Laufe der Jahre viele nette Dinge gesagt, doch da er immer betrunken dabei war, hatte Mia ihn nie ernst nehmen können. Aber das hier, das war aufrichtig und kam von Herzen, und deshalb ist dieser Brief auch so kostbar für sie.
Vor Karen, vor diesem Jahr, eigentlich fast sofort nach Livs Tod, verbrachten sie und Fraser viel Zeit miteinander, sehr viel Zeit, nur sie beide und später mit Billy, und das vermisst sie heute. Sie vermisst die Nähe, und vielleicht ist dieser Brief eine Entschädigung dafür – so etwas wie ein kleines Stück vonihrem Freund, das sie ständig bei sich tragen und herausholen kann wie ein Fläschchen Rescue Remedy, wenn es ihr nicht gut geht.
Aber da ist noch etwas anderes, denkt sie, als sie an der Ampel die Straße überquert; etwas, womit sie nicht so entspannt umgehen kann und das ihr seit Billys Geburtstag nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Alles war gut, als Fraser sich wie ein Idiot benahm, als er sie total hysterisch aus Vegas anrief, sie am Telefon beschimpfte und sich wie ein »unbeherrschtes, selbstsüchtiges Kind« aufführte. Damit konnte sie umgehen, konnte völlig mütterlich-streng herüberkommen – Frasers Babysitter zu spielen lenkte sie wenigstens von ihren eigenen Gefühlen ab. Doch jetzt hat er angefangen, vernünftig zu werden, weiterzuleben und sich seinen Gefühlen zu stellen, und dadurch ist ein Vakuum entstanden, ein fest umrissener leerer Raum, in dem Mia gezwungen ist, sich ihren eigenen Emotionen zu stellen und sich zu fragen, was sie fühlt.
Sie schiebt die Sonnenbrille auf den Kopf, als könnte ihr das mehr Klarheit geben. Sie war eifersüchtig. Nein, nicht wirklich eifersüchtig – oh, doch , richtig eifersüchtig! –, als sie ihn und Karen zusammen auf Billys Geburtstagsparty sah. Es war ein Schock, ein Schlag vor die Brust, das Händchenhalten der beiden, der Kuss, den sie mitangesehen hatte, die zärtliche Behutsamkeit, mit der Fraser eine Wimper aus Karens Auge entfernt hatte … oder wie Karen ihm ihre Geheimnisse ins Ohr geflüstert hatte. Ihre und seine. Und zum ersten Mal erkannte Mia, dass sich zwischen ihr und Fraser seit Livs Verlust etwas entwickelt hatte – vielleicht etwas, das tief im Innersten schon immer da gewesen war.
Mia versucht, nicht zwanghaft in die Vergangenheit zurückzublicken; die Gegenwart ist schon schwer genug zu bewältigen. Aber in letzter Zeit hat sie oft an die Zeit zurückgedacht,in der sie sich kennenlernten und als Studenten sehr viel zusammen unternahmen – vor der Moussaka-Nacht, in der alles irgendwie schiefging, bevor es überhaupt beginnen konnte. Damals war etwas Besonderes zwischen ihnen gewesen, oder zumindest hatte Mia das gedacht. Verging so etwas je? Oder hatte sie ihre Gefühle für Fraser schließlich nur begraben, weil Liv und er zusammen gewesen waren? Andererseits jedoch waren sie, Mia, und er schon ewig Freunde gewesen, bevor er letztendlich mit Liv zusammenkam, ein Jahr, nachdem sie im Herbst 1999 ihren Abschluss gemacht hatten. Wenn es ihnen, Mia und ihm, wirklich bestimmt gewesen wäre, ein Paar zu werden, wären sie es doch sicher auch geworden? Doch er war mit Olivia zusammen, und so war das nun einmal.
Und nun hat Fraser Karens Schulter, an der er sich ausweinen kann, jetzt geht er mit ihr zu Partys und verbringt mit ihr Livs Todestag, und Mia fühlt sich … nun ja, als hätte sie etwas verloren. Der Brief hat für sie eine besondere Bedeutung erlangt. Seine Worte sind für sie viel mehr als nur die netten Worte eines Freundes. Sie kennt jede Zeile auswendig, Herrgott noch mal! Und jetzt ist sie unterwegs, um
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