Kleine Luegen erhalten die Liebe
warum nicht, weil es sehr befriedigend sein kann, sich anzustrengen.
»So, kann mir jetzt irgendjemand sagen, was Mia dieses Wochenende vorhat?«
Wieder Stille – unterbrochen nur von einem verschleimten Husten von Gerry, einem einundsechzigjährigen Lkw-Fahrer, der gerade eine Brasilianerin im Internet kennengelernt hat.
Schließlich endet die Stunde. Eine qualvolle Stunde – und das bereits für mich, denkt Mia. Wie muss es dann erst für Emilia sein?, fragt sie sich auf dem Weg zur Tür. Emilia hockt auf dem Boden und packt ihre Sachen in ihre Tasche. Ihr honigblond getöntes Haar verdeckt ihr Gesicht, und Mia zögert, nicht sicher, ob sie etwas sagen soll oder nicht.
»Ähm, Emilia?«
Die Brasilianerin fährt zusammen und wirft in einer gekonnten Geste ihr Haar zurück. »Ja?«
»Ich wollte eigentlich nur fragen … na ja, ob alles in Ordnung bei dir ist?«
Emilia steht auf und lässt mit ihren ein Meter zweiundachtzig Mia fast wie einen Zwerg erscheinen. »Klar«, antwortet sie lächelnd. »Du hast mich wie immer gerettet. Danke.«
Mia lächelt schüchtern und versucht zu ignorieren, dass sie Emilia gerade mal bis zur Brust reicht. Außerdem hat Emilia eine fantastische Figur und trägt ein gehäkeltes weißes Top, das einen Bauch zutage treten lässt, der schlank und walnussbraun wie eine schöne Violine ist.
»Und was hast du dieses Wochenende vor?«, fragt sie lächelnd. »Lass mich zur Abwechslung auch dir mal eine Frage stellen! Du hast doch sicher einen Freund? Wahrscheinlich musst du dir die Männer mit einem Stock vom Leib halten, denke ich!«
Mia lacht, aber Emilia runzelt die Stirn. Ich darf keine umgangssprachlichen Wendungen benutzen, sagt sich Mia, sonst klinge ich noch wie jemandes Großtante.
»Kaum.« Emilia zuckt mit den Schultern und fixiert Mia mit ihren verträumten grünen Augen. »Ich meine, ich weiß, dass du hier lebst, deshalb will ich nicht unhöflich sein, aber was zur Hölle kann man in dieser gottverdammten Stadt schon tun?«
Mia prustet vor Lachen. Auch Eduardo bringt sie zum Lachen, wenn er unangemessene englische Redewendungen benutzt. Wie zum Beispiel »beknackt« zu sagen, wenn er eigentlich »beschränkt« meint.
»Ich bin seit drei Monaten hier, und ich habe keine Freunde, Mia. Die englischen Mädchen wollen nichts anderes als trinken, bis sie so betrunken sind, dass sie aussehen … wie ich jetzt, Mia«, sagt sie und hebt die Hände hoch wie Pfoten, wirft den Kopf zurück und tut so, als liefe ihr der Geifer aus dem Mund. Es ist das erste Mal, dass Mia sie hässlich sieht, und sie ist wie vom Donner gerührt. Aber dann fängt sie an zu lachen. Auch Emilia lacht; ein erleichtertes, breites Lachen, bei dem ihre perfekten, blendend weißen Zähne zum Vorschein kommen.
»Hey«, sagt Mia, »falls du mal mit mir und meinen Freunden was unternehmen möchtest … auch wenn wir nicht sehr aufregend sind. Ich habe ein Baby, deshalb komme ich nicht oft raus …«
Emilia schnappt entzückt nach Luft. »Du hast ein Baby? Ich liebe Babys!«
»Na prima! Dann habe ich ja schon einen Babysitter.«
Emilia macht ein langes Gesicht.
»Du meine Güte, nein, ich scherze nur … Komm, lass uns unsere Nummern austauschen!« Mia sucht in ihrer Tasche nach ihrem Handy. »Und wenn ich das nächste Mal etwas halbwegs Interessantes vorhabe, lade ich dich dazu ein, okay?«
»Cool, danke«, sagt Emilia, die inzwischen auch ihr Telefon gefunden hat.
»Es könnte allerdings ’ne Weile dauern«, schränkt Mia ein, bevor sie Emilias verständnislose Miene sieht und beschließt, dass Sarkasmus an Emilia im Moment vielleicht noch verschwendet ist.
♥
Mia öffnet ihr Fahrradschloss und fährt über den Market Square auf die Moor Lane und den Williamson’s Park zu. Es ist ein schöner klarer Morgen, aber wie in so vielen Provinzstädten an einem Werktag scheinen die einzigen Einwohner Rentnerinnen – rundliche alte Damen mit karierten Einkaufstrolleys – und Studenten zu sein. Oh, und Tauben natürlich, so viele verdammte Tauben, dass Mia sie mit der Hand vertreiben muss.
Heute ist der zwanzigste August 2008. Zwei Jahre sind seit Livs Tod vergangen, und Mia findet, dass sie sich bisher ganz gut gehalten hat. Sie ist weder gefühlsselig geworden noch in Tränen ausgebrochen, und sie hat sich auch nicht die üblichen Fragen nach dem Sinn des Lebens und des Todes gestellt – weil, offen gestanden, genau dort der Weg zum Wahnsinn liegt und sie nicht wie Mrs. Durham enden
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