Kleine Luegen erhalten die Liebe
ihre falsche Brille und die Tatsache, dass er plötzlich das Gefühl hat, einem ungeheuer intellektuellen Lese-Club beigetreten zu sein. Doch Anna macht ein langes Gesicht und sieht so verletzt aus, dass Fraser sie spontan in die Arme nimmt. Ihr ist die Liste wichtig, sie ist ihr ebenso wenig egal, wie Liv es ist; sie hat trotz allem ein gutes Herz, die Spanner. Schade nur, dass sie manchmal eine solch fürchterliche Nervensäge sein muss.
Der Lesesaal ist ausgesprochen eindrucksvoll. Fraser hat die Art von Lerneifer en masse noch nie gesehen, außer vielleicht in dem Film Der Club der toten Dichter , und ist überrascht, wie eingeschüchtert er sich davon fühlt. Anna geht zum Informationstisch, um Bücher anzufordern, und Fraser bleibt einen Moment stehen, um sich in einem jähen Schwindelanfall an die Wand zu lehnen. Doch dann strafft er sich schnell wieder. Der Saal ist wirklich riesig mit seiner hohen, gewölbten Decke. An Reihen langer Tische sitzen Leute, die Köpfe über Bücher oder Laptops gebeugt halten, ihre Gesichter sind von ihren Leselampen erhellt. Einige dieser Typen sehen aus, als säßen sie schon seit Wochen hier. Und dann die Wände voller Bücher, so vieler alter Bücher! Fraser schwirrt der Kopf, wenn er an all die Leute denkt, die hier schon durchgekommen sind, an die Gelehrten, die auf diesen Bänken gesessen haben. Außer einem gelegentlichen Husten oder Papierrascheln, das durch den riesigen gewölbten Saal schallt, herrscht absolute Stille dort.
Von einer Bibliothekarin, die so farblos und blaustrümpfig aussieht, dass Fraser sich fragt, wie sie in der Außenwelt zurechtkommen mag, erhalten sie eine Regalnummer für die Bücher, die sie brauchen.
Zwischen den Werken von Coleridge, Byron und Keats findet Fraser The Prelude . Es ist ein unvorstellbar altes Buch, das den Stempel der Britischen Nationalbibliothek auf seinem braunen Ledereinband trägt – ein richtiges Buch, wie Bücher sein sollten. Sein ledriger, verstaubter Wohltätigkeitsbasar-Geruch ruft sofort eine olfaktorische Erinnerung in Fraser wach: wie er im Mai 2000 in der Bibliothek von Lancaster, einem längst nicht so inspirierenden und viel niedrigeren Gebäude, für sein Examen büffelte und irgendwann den Kampf ums Wachbleiben verlor und über Platos Symposium einschlief. Ach, was waren das für glückliche Zeiten …
»Komm, wir setzen uns hierher!«, flüstert Anna und nimmt auf einer der Bänke Platz, schaltet ihre Leselampe an, schlägt ihre Ausgabe von Lyrical Ballads auf – anscheinend an genau der Stelle, die sie gesucht hat – und beginnt zu lesen. Fraser steht einen Moment unschlüssig da. Wird sie ihm nicht sagen, mit welchem Teil von The Prelude er beginnen soll? Das Buch ist jedenfalls so dick, dass er mit Schrecken daran denkt, wie lang das wichtigste Gedicht darin sein mag.
Sekundenlang schaut er sich um, als wollte er sichergehen, dass niemand zusieht, legt dann die Plastiktüte mit seinen Sachen auf den Tisch neben Anna und setzt sich vorsichtig, um nur ja keine Geräusche zu verursachen.
Auf der anderen Seite neben ihm sitzt eine Frau, die entweder erkältet ist oder Heuschnupfen hat, weil sie von zusammengeknüllten, durchweichten Papiertüchern umgeben ist, die eine Art Papier-und-Nasenschleim-Barriere bilden. Dann putzt sie sich sehr ausgiebig und laut die Nase, und Fraser nutzt diese kurze Zeit, um alles aus seiner raschelnden Plastiktüte herauszuholen und auf dem Tisch vor ihm aufzubauen. Dann beugt er sich gezielt nach links hinüber, um zu sehen, was seine Tischnachbarin liest: Die Odyssee. Na, das ist ein Buch!, denkt er. Neben ihr liegt ein Stapel gelber DIN-A4-Blätter mit handschriftlichen Notizen, die wie die Kritzeleien eines Serienkillers aussehen.
Fraser gibt ein kurzes, scharfes Husten von sich, als käme er zur Sache, und schaltet seinen Laptop an, aber da er vergessen hat, ihn auf stumm zu stellen, ertönt ein unerträglich lautes Klingeln, als der Rechner hochfährt, und Fraser flucht im Stillen, während er mit zusammengekniffenen Augen darauf wartet, dass es aufhört.
»Zum Donnerwetter, Fraser!« , zischt Anna, während sie auf solch dramatische Art und Weise ihr Haar zurückwirft, dass esFraser ins Auge trifft. Sofort beginnt es, so stark zu tränen, dass er für einen Moment seine Hand darüber halten muss.
Endlich, nachdem er mindestens zehn Minuten alles nur Erdenkliche getan hat, um das Unvermeidliche aufzuschieben, öffnet er seine Ausgabe von The Prelude . Dieses
Weitere Kostenlose Bücher