Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
angeblich legendärsten Berg der Tour de France mit seinen berühmten 21 Serpentinen- oder Haarnadelkurven, die allesamt nach Etappensiegern benannt sind, DD R-Architektur in knapp 2000 Metern Höhe. Das ist für einen gebürtigen Ostdeutschen insofern verblüffend, als seine angestammte Heimat auf 1214 Metern endete; weiter hinauf reichte der sozialistische Arbeiter- und Bauernstaat nicht. Vor allem die bekannten Etappenzielorte in den Alpen, aber auch viele in den Pyrenäen, ob nun L’Alpe d’Huez, Les Deux Alpes oder Luz-Ardiden, sind eigentlich Skistationen – also Plätze, die kein kultivierter Mensch aufsucht – und sehen im Sommer noch trostloser aus als im Winter. Keiner dieser Holzwege rechtfertigt den Aufwand, den man getrieben hat, um an sein Ende zu kommen. Aber das Ende war ja auch nicht das Ziel.
Passstraßen sind in der Regel reizvoller, wenngleich oft stärker von Autos befahren, die einem die schöne Höhenluftverderben. Ein Pass verbindet bekanntlich, er endet nicht in künstlichen Städten zwischen sommers gespenstisch leeren, hässlichen Hotelbunkern, sondern führt über den Bergrücken auf der anderen Seite wieder hinunter. Ein Pass bedeutet außerdem immer zwei Anstiege, weil man ihn von beiden Richtungen fahren kann. Es gibt sehr schöne Pässe. Den Col de Madeleine zum Beispiel mit seinem endlosen, irisch grünen Wiesenteppich und dem Dauerausblick auf den Mont Blanc. Oder den Col du Galibier, mit 2645 Metern der höchste Punkt, den ich bislang erradelt habe. Als ich mich die letzten 500 Höhenmeter zum Gipfel hinaufschraubte, quasi an der Wand eines ausladenden, teilweise noch schneebedeckten Hochtals entlang, auf der einen Seite die Felswand, auf der anderen den Abhang, hatte ich minutenlang Begeisterungstränen in den Augen. Eine Art Glückskoller. Es fehlte nur noch die passende Musik. Wie ein kleiner Käfer krabbelte ich an der Bergflanke entlang. In solchen Momenten leuchtet einem ein, warum Indianer zum Sterben auf Berge gingen. Ein fettes und vor mir erschreckt flüchtendes Murmeltier war der einzige Zeuge meiner emotionalen Aufwallung.
Tja, und dann sieht man den Gipfel, jagt den Puls noch mal ans Limit, und die mühsam erstrampelte potenzielle Energie verrauscht auf der Abfahrt in ernüchternder Schnelligkeit ...
Wie gesagt, die Berge pauken einem Bescheidenheit ein. Mein erster Berg der
Hors Catégorie
war L’Alpe d’Huez, ich fuhr zusammen mit einem Bekannten, und wir begingen alle Fehler, die man nur begehen kann. Ich hatte mich erkältet, weshalb wir am Vortag nicht Rad gefahren waren, sondern stattdessen mit der Seilbahn von La Grave auf den gegenüberliegenden Gletscher. Beim Rückweg waren wir an der Seilbahn-Umsteigestation freilich auf die närrische Idee gekommen,zu Fuß weiterzugehen, von oben sah die Strecke einfach aus, aber es waren bestimmt noch über tausend Höhenmeter, wir verliefen uns permanent, und am Morgen ergänzten prachtvoll übersäuerte Oberschenkel die keineswegs abgeklungene Erkältung. Wir fuhren mit dem Auto unbeabsichtigt bis direkt zum Fuß des Anstiegs, das heißt, wir nahmen ihn unaufgewärmt in Angriff, und als wir ungefähr nach der dritten Kurve bemerkten, dass es tatsächlich schon der Anstieg war und die Strecke nicht mehr flacher werden würde, war es längst zu spät. Man sollte sich halt über das Streckenprofil vorher informieren. L’Alpe d’Huez ist ohnehin schwer, unter diesen Umständen war es eine Marter. Ich pendelte mich bei etwa zehn Stundenkilometern ein und meinte trotzdem, mir würden die Schenkel platzen. Als es im oberen Drittel flacher wurde, hatte ich keine Kraft mehr, um höher zu schalten. Ich schämte mich so sehr, dass ich unmittelbar vor dem Ort kehrtmachte; ich glaubte, man würde mir meine miserable Zeit gewissermaßen auf der Stirn ansehen ...
Erlebnis hin, Wohlbefinden her, bei der Erstürmung von Bergen bleibt ein Nonsens-Aspekt immer übrig. Es gibt nämlich strenggenommen keinen Grund, auf einen Berg zu klettern oder einen Pass mit dem Fahrrad zu befahren. Die frühen britischen Alpinisten waren sich dessen noch deutlich bewusst. Bergsteigen galt ihnen als steiler Jux. Wenn jemand auf einen Berg kletterte, am besten noch unter Lebensgefahr, war das ungefähr, als wenn er einen guten Witz machte. In unserer brachialhedonistischen Zeit genügt die Erklärung, dass etwas gut tut, und man kann mit allgemeiner Akzeptanz jenseits aller Sinnfragen rechnen. Ich lege Wert auf beide Aspekte: Bergauffahren ist
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