Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
ein Nonsens, der wahnsinnig gut tut.
In seinem Essay ›Der Mythos des Sisyphos‹ fragte AlbertCamus: »Denn was ist der absurde Mensch wirklich?« und antwortete gleich selber: »Derjenige, der nichts für die Ewigkeit tut und es nicht leugnet.« Ich bin mir nicht ganz sicher, was der wackere Franzose damit meint – welcher Mensch täte denn etwas für die Ewigkeit? –, zitiere den Passus aber dennoch zustimmend, weil insbesondere der bergauf ächzende Passionsradfahrer erstens die Sisyphos-Metapher fast automatisch hervorruft und zweitens auf besonders exzessive Weise nichts für die Ewigkeit tut. Der nichtprofessionelle Hochgebirgsbergaufradfahrer sei hiermit zum absurden Menschen par excellence erklärt (die Profis fallen aus dem Raster, weil sie für Geld fahren – kann sich jemand Sisyphos als Gehaltsempfänger vorstellen?).
Camus’ Text endet mit den berühmten Sätzen: »Der Kampf gegen den Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.« Was den armen Erzschelm und Marmorwälzer angeht, so muss Camus diese Frage mit ihm im Hades klären – auf unseren Radfahrer träfe diese Feststellung zu. Dessen Herz füllt der Kampf gegen den Gipfel so ausgiebig mit Blut und sein gequälter kluger Körper schüttet so viel Endorphin aus, dass er sich tatsächlich zeitweise als glücklicher Mensch fühlt. Und in einem kurzen klaren Moment verflechten sich Wollust und Schmerz möglicherweise zu der sachdienlichen Erkenntnis, dass »Glück und Absurdität« – zum letzten Mal Camus – »untrennbar« sind.
Fassen wir zusammen: Radfahren wird grüblerischen Naturen die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht beantworten, aber stundenweise beglückend von ihr wegführen. Man könnte sich vernünftigeren Tätigkeiten widmen, als eine Passstraße hinaufzufahren. Aber kaum herzausfüllend-hinreißenderen.
Kulinarisches
oder:
Der Flagellant als Schlaraffe
Es soll ja Leute geben, die ihre infolge von Sport entstehenden Hunger- und Durstgefühle mit dressingfreien Salatbergen und Wasser bekämpfen. Andere trinken alkoholfreies Bier (wegen der Mineralien). Von einem in Übersee schauspielernden Ex-Bodybuilder, den ich ansonsten durchaus komisch finde, hörte ich einmal die barbarischen Worte, abends esse er »höchstens noch ein paar Peptide«. Das tat mir aufrichtig leid für ihn.
An dieser Stelle sei der einzige Merksatz eingeschaltet, den Sie von mir hören werden, nämlich:
Wer sich nach einer ausgiebigen Trainingstour den lukullischen Wonnen verschließt, ist – sofern er nicht mit Radfahren sein Geld verdienen muss – ein Idiot.
Mich, der ich auf diesen Seiten dankenswerterweise das Maß der Dinge bin, erfasst des Abends nach getaner Müh ein nicht anders als soghaft zu nennender Weindurst, dem sich meistens ein gargantuesker Appetit erfreulich beigesellt. Mit schwermütiger Wildheit rücke ich dem Trainingseffekt zuleibe und mache ihn zuschanden. Nicht dass ich ein Mensch wäre, der zur Erzeugung von Appetit enormer körperlicher Anstrengungen bedürfte, doch es ist immer wieder interessant, zu welchen Kalorienvernichtungen man fähig ist, wenn vorher ein paar tausend derselben den Pedalen dauerhaft anvertraut wurden. Im Mahl rundet sich der gute Tag zum gelungenen. Damit ich bei Tische meinen Mann stehe, treibeich Sport – und umgekehrt. Tagsüber Flagellant – abends Schlaraffe. Je zäher der eine, desto enthemmter der andere. Es handelt sich, mit einer Formulierung Heraklits, um eine
gegenstrebige Fügung
.
Der kulinarische Aspekt ist aber hiermit noch nicht ausgereizt. Man kann nämlich nicht nur
nach
dem Radfahren ausgiebig essen und trinken, sondern auch
während
der Fahrt. Ist die Tour länger als 100 Kilometer, muss man sogar essen, sonst versagen früher oder später die Beine. Besonders die Profis schlingen kolossale Mengen in sich, um die zehrenden Rennen durchzustehen – Mengen, die der Körper mit einer Mahlzeit gar nicht aufnehmen kann, weshalb es unterwegs regelmäßig Futterstellen gibt. Und die armen Kerle tragen keinerlei Reserven mit sich herum.
Diese Kohlehydrat-Stopferei hat mit Genuss nichts zu tun, aber dafür sind es halt Profis. Hier geht es um die Parallelität von Essen und Fahren. Der engagierte Freizeitradfahrer sollte sich nicht der Erkenntnis versagen, dass sein Sport nahezu der einzige ist, den man im unmittelbaren Anschluss an, sagen wir mal, eine Dorade und eine Flasche Pinot bianco betreiben kann. Oder, um
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