Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
fast nichts mehr von den im Vorabend gegründeten Stoffwechsel-Maläsen. Wenig später wankt der morgendliche Schwur, heute definitiv keinen Alkohol zu trinken. Alsbald naht neuer Durst auf Taubenfüßen, ernsthafter Durst, nicht jener, der sich mit Wasser zufrieden gibt. Spätestens beim Duschen sind die Vorsätze gefallen.
Ausdauersport auf einem soliden Mittelklasseniveau ist überhaupt kein Hindernis für die Liebe zum Trunk, im Gegenteil, eher eine gute Voraussetzung. Der Körper ist gereinigt, das schlechte Gewissen verschwunden, also kann man ausgiebig tafeln und zechen. Am nächsten Tag ist automatisch der Stachel da, der einen aufs Rad treibt. Und so weiter. Nun danket alle Gott.
Zweierlei Limit
oder:
Die Kritik des reinen Pedaltretens
»Der trainierte Leser ist ein Langläufer durch Texte«, notiert der Karlsruher Philosoph und Kulturtheoretiker Peter Sloterdijk und bezeichnet professionelles Lesen als ein »Zeilenrennen«. Inhaltlich völlig folgenlos lässt sich der
Läufer
in einen
Fahrer
transformieren, womit wir bei der inneren Verwandtschaft zwischen Radfahren und dem Lesen beziehungsweise Verfassen komplizierter Texte vor dem Horizont des Leistungslimits wären. Ein Text hat eine Länge, ein Streckenprofil, einen Schweregrad, und jeder Leser benötigt zu seiner Bewältigung einen individuellen Zeit- und Energieaufwand. Man kann durch Lesen den Kopf bilden wie durch Sport den Körper. Man kann schließlich ein trainierter Leser und/oder ein trainierter Radfahrer werden. Und da fängt der Vergleich an, interessant zu werden, denn nun verlässt man die Flachetappen der Allerwelts-Belletristik und begibt sich auf anspruchsvolleres Terrain. Ab einem bestimmten Abstraktionsniveau eignet Texten eine spezifische Serpentinität; das Befahren von anspruchsvollen Gebirgspässen entspricht in gewissem Sinne der Lektüre von anspruchsvollen Texten. Ich habe – die Gleichungen der relativistischen Physik hin, Gebrauchsanweisungen japanischer Elektrogeräte her – vor allem philosophische Texte im Sinn, von denen einige bekanntlich zu den schwierigsten Parcours gehören, auf welchen sich das menschliche Gehirn überhaupt verausgaben und voranarbeiten kann. Es ist ein erhebendes Gefühl, wennman dem Autor trotzdem zu folgen vermag, man genießt den Höhenzuwachs und die Aussicht ins Tal, hört gewissermaßen die Kuhglocken aus dem Tiefland, spürt aber mitunter auch die dünner werdende Luft und kann in Atemnot bis zur völligen Schwäche geraten. Auch in dieser Sphäre hängt es von der Tagesform ab, wie weit oder wie schnell man vorankommt. Irgendwann ist das Hirn »übersäuert«, und es geht einfach nicht mehr weiter.
Das Gehirn ist sozusagen ein Denkmuskel, und Autoren wie Kant, Hegel oder Heidegger oder meinethalben auch Niklas Luhmann sind wahlweise Hochgebirgszüge oder vortreffliche Ergometer. Leser, die sich solchen Autoren erstmals und unvorbereitet nähern, machen dieselben deprimierenden Erfahrungen wie Radfahrer, die sich erstmals und unvorbereitet ins Gebirge wagen – Naturtalente jeweils ausgenommen. In seiner Erzählung ›Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‹ beschreibt Robert Musil eine hirnathletische Überforderung, die mit unserem Thema zu tun hat. Es handelt sich um die Lektüre der ›Kritik der reinen Vernunft‹, sozusagen den Anstieg hinauf zum Col du Transzendental, dem höchsten Berg im Immanuel-Kant-Massiv, wovon der Reporter Musil folgendermaßen zu berichten weiß: »... wenn er (also Törleß – d. Verf.) gewissenhaft mit den Augen den Sätzen folgte, war ihm, als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe. Als er nach etwa einer halben Stunde erschöpft aufhörte, war er nur bis zur zweiten Seite gelangt, und Schweiß stand auf seiner Stirn. Aber dann biß er die Zähne aufeinander und las nochmals eine Seite weiter ...«
Davon abgesehen, dass geistige Anstrengung nach meiner Beobachtung nie wirklich zu Schweißausbrüchen führt, handelt es sich bei der ›Kritik der reinen Vernunft‹, in die Radfahrspracheübersetzt, um, sagen wir mal, den Mont Ventoux der Philosophie (ein insofern passendes Gleichnis, als der Herrgott diesen kahlen Buckel in eine der kulinarisch reizvollsten Regionen der Welt stellte, als welche ich Kants Gesamtwerk ansonsten durchaus betrachte), eine begriffliche Mondlandschaft, auf welcher einem der Mistral der transzendentalen Dialektik entgegenbläst. Es gibt in Kants Opus Stellen, wo ich sozusagen vom
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