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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Klonovsky
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Sicht. Fern die 200 0-Höhenmeter -Marke. Ich komme mir vor wie eine Maus angesichts der majestätischen Bergflanke, in die ich allzu mutwillig hineingefahren bin. Sollte ich vielleicht einen Gang runterschalten? Ist das schon das erste ernsthafte Schwächeln? Treten, treten, treten. Ich habe den Eindruck, dass ich immer langsamer werde. Dass ich zumindest bald immer langsamer werden muss. Jemand hat mir etwas Bremsendes in die Kette geschmiert. Oder kleben die Reifen am heißen Asphalt fest? Mein Fahrrad läuft doch normalerweise viel leichter! Wie lange soll das eigentlich noch gehen? Die Schenkel fühlen sich allmählich an, als seien sie mit Glasscherben gespickt. Mit heißen Glasscherben. Mit glühenden Glasscherben. Eine gewisse Verzweiflung setzt ein. Wo ist der Gipfel? Vielleicht stimmt der Höhenmesser ja nicht? Irgendwoher flüstert es: »Mach doch ’ne Pause! Es sieht ja niemand.« Nein, antwortet mein Ego oder sonst was, Absteigen ist das Allerletzte. Auch wenn es keiner sieht. Die schlechthinnige Schande. Interessanterweise fühlt sich das Bewusstsein der Schwäche viel schlimmer an als die Schwäche selbst. »Denn der Seele ist es eigentümlich, Schmerz zu empfinden, nicht dem Leib« (Augustinus, ›Gottesstaat‹, XXI, 3). Am Anstieg kann sich der Wille bis zuletzt mit den Schmerzen messen, weil einen die so genannte Hangabtriebskraft am Schlafittchen hält. Auf einer Flachstrecke würde ich einfach ein paar Pedalumdrehungen auslassen, wenn es nicht mehr geht; der Anstieg indes duldet keinen Aussetzer. Der nächste Tritt würde doppelt wehtun. Also weitertreten. Einmal endet jede Steigung. Angeblich.
    Doch dann geschieht manchmal etwas Merkwürdiges. Der Berg, den ich eben noch hatte überwinden wollen, den ich ingewissem Sinne zum Gegner erklärt habe, nimmt mich – ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll – in sich auf. Der Transzendenz-Vorsatz schlägt um in ein Immanenz-Erlebnis. Der Berg meint es ja gar nicht böse mit mir, ich bin doch das Depperl, das ihn zu schnell oder überhaupt angegangen ist und ihn in seiner Ruhe stören will. Im Hochgebirge begreife ich die Vermessenheit, mich auf dergleichen Auseinandersetzungen einzulassen. Ich werde zugleich entspannt und deprimiert. Entspannt, weil der Berg ohnehin stärker ist. Deprimiert, weil ich schwächer bin. Ein richtiger Berg erteilt immer auch eine Lektion in Demut.
    In den Bergen begreift man endgültig, was Radfahren für ein brutaler Sport ist. Kaum eine Verlorenheit kommt dem Zustand gleich, bergauf am Ende seiner Kräfte zu sein. Wenn es keine Minute mehr so weitergehen kann – und dann doch geht. Aber man frage nicht, wie. Es sind existenzielle Erschütterungen. Vor meinem geistigen Auge tauchen auf: der Ohrensessel, das Bett, der Grabstein. Im Bewusstwerden seiner Leistungsgrenzen ahnt der Mensch seine Sterblichkeit. Radfahren im Hochgebirge treibt einem (sofern noch erforderlich) die große Klappe aus. Bezeichnenderweise gibt es in den Peletons der großen Rundfahrten keine Sprücheklopfer wie beispielsweise unter Fußballern. Jeder weiß, wie nah der nächste körperliche Einbruch sein kann.
    Dass jeder in extremer Herausgefordertheit bei sich weilt, ist der Grund für die freundliche Stimmung auf den Bergstraßen. Dass einer hier oben überhaupt unterwegs ist, genügt als Entreebillett zur Gemeinschaft. Man grüßt sich (in babylonischer Sprachvielfalt). Man versteht sich. Man weiß, dass es auch für den anderen eine Schinderei ist, egal welches Tempo er (oder sie) anschlägt. Steht einer am Straßenrand, bietet ihm schnell jemand Hilfe an, sei es einen neuenSchlauch, zu essen, zu trinken, vielleicht auch nur moralischen Beistand. Hier oben gibt es keine Spinner mehr, die sich auf ein paar Kilometer an einen ranhängen, ohne zu fragen, ob das auch erwünscht sei, oder irgendwelche Rennspielchen veranstalten, weil sie sich für eine Viertelstunde fit genug fühlen. Man nimmt oder lässt den Vortritt, sonst nichts. Hier muss man seine Kräfte genau einteilen. Hier herrscht ein gewisser gemeinschaftlicher Ernst. Vor den Bergen sind alle klein.
    Zugleich überwältigt einen die Großartigkeit der Gebirgslandschaft, in die man immer tiefer eindringt und über die sich ein heroisch stimmender Himmel spannt. Dieses Vergnügen bleibt freilich nicht ungetrübt. Natürlich waren auch hier oben fast überall die – frei nach Thomas Bernhard – Weltoberflächenverschandler am Werk. So empfängt einen in L’Alpe d’Huez, auf dem

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