Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Rad steigen und schieben muss (wer jetzt selbstzufrieden grinst, sollte es innerhalb einer Stunde hinauf nach L’Alpe d’Huez schaffen). Dasselbe gilt für Passagen aus Heideggers ›Sein und Zeit‹ oder Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, um nur zwei
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zu nennen, die einen ebenso ans geistige Leistungslimit führen können wie gewisse Pässe ans körperliche. Ich spüre zunächst eine gewisse Ermüdung, ein Mich-nicht-mehr-konzentrieren-Können, trotz aller Anstrengung, das dem allmählichen Nicht-mehr-die-Pedale-treten-Können durchaus entspricht. Und je höher es hinauf geht in die vegetationslose Kahlheit der Abstraktion, je stärker die Steigung zunimmt, desto mehr schwinden die Kräfte, bis ich nicht mehr mitkomme, abgehängt werde, aufgeben muss. Und da Kant, Hegel, Heidegger, um bei meinen drei Beispielen zu bleiben, diese Gedanken im Gegensatz zu mir nicht bloß nachvollziehen müssen, sondern sie selber als Erste gedacht, geordnet und zu Papier gebracht haben, komme ich mir ihnen gegenüber ungefähr so vor wie einem gewissen Herrn Armstrong gegenüber auf dem Rad.
Tanzstunde
oder:
Wie man stehend vorankommt
An dieser Stelle ist eine Art Geständnis fällig, nämlich dass ich die Hälfte meiner jährlichen Kilometer
auf der Rolle
fahre,
indoor
, wie es neudummdeutsch heißt. Also in geschlossenen Räumen, ohne mich einen Millimeter vom Fleck zu bewegen. Entweder daheim oder auf diversen Spinning-Rädern. Das kommt anscheinend einem Bekenntnis zur Idiotie gleich. Wie, fragt sich der Zurechnungsfähige mit allen wahren und guten Gründen, kann sich jemand stundenlang auf einem stationären Veloziped verlustieren, auf keinem Fahrrad, sondern einem Stehrad, ohne erhebliche Zweifel an seinem Geisteszustand auf sich zu ziehen?
Gemach. Es gibt Mittel und Wege, auch dieser Beschäftigung ihr schwachsinnsrelevantes Gepräge zu nehmen.
Zunächst einmal offeriert sich der Unterschied zwischen Passion und Profession am deutlichsten in der jeweils zur Verfügung stehenden Zeit. Ein anderweitig berufstätiger Mensch kann nicht jeden Tag vier, fünf Stunden mit dem Rad ins Grüne beziehungsweise Blaue fahren. Ich muss
meine Kilometer
in kürzerer Zeit mittags im Studio oder auch mal abends daheim
schrubben
, denn es würde viel zu lange dauern, aus der Stadt herauszukommen. Ich habe das Glück, ein Spinning-Studio für mich allein nutzen zu können, weil mittags dort nie jemand trainiert. Auf das kollektive Geschrei und Gestampfe einer Gruppe kann ich gern verzichten; außerdem mag ich mir weder von jemandem den Sauerstoffwegatmen noch irgendwelche Anweisungen erteilen lassen, beispielsweise wann ich mich aus dem Sattel erheben möge. Von den begleitmusikalischen und olfaktorischen Zumutungen mal ganz zu schweigen.
Ich deponiere also die Fernbedienung für den C D-Player sowie ausreichend Wasser in Griffweite und reiße die Fenster auf. Letzteres auch im Winter – man muss sich halt dementsprechend anziehen –, wenn im Fitnessstudio eine Treppe tiefer aus zwar erklärlichen, aber unverständlichen Gründen sommerlich gekleidete Damen alle Fenster verrammeln. Warmfahren und Ausrollen lassen sich praktisch mit der Zeitungslektüre verbinden, wobei die Gazetten, nach Erstgebrauch unters und rund ums Rad gelegt, hervorragende Dienste als Schweißaufsauger verrichten. Selbstverständlich geschieht das Prozedere vor einer Spiegelwand, was einem die seltene Gelegenheit gibt, seine Haltung zu kontrollieren oder zweifelnd bis selbstverliebt mit seinem Alter Ego zu kosen.
Das letztlich alles entscheidende Problem besteht in der Musikauswahl. Spinning ohne Musik – beziehungsweise ohne Hörbuch – wäre nun wirklich viel zu langweilig. Die Musik ist der Treiber; sie muss ersetzen, was an realer Strecke fehlt. Sie bestimmt Rhythmus, Tempo, Schweregrad, ob man aus dem Sattel geht und so fort, sie fingiert sozusagen ein Streckenprofil. Dessen Gestaltung möchte ich selber in der Hand haben. Ich kann mich nicht zwei Stunden auf ein stationäres Fahrrad setzen und fremder Leute Musik hören. Ich kann mich nicht mal zwei Stunden auf ein Sofa setzen und fremder Leute Musik hören. Kurzum: Auch in diesem Fall empfinde ich Gesellschaft eher als störend. Es sei denn, sie unterwürfe sich meinem akustischen Streckendiktat.
Das kann beispielsweise so aussehen, dass auf BrucknerRadiohead folgt und zum Abschluss Rammstein. Also eine Bergankunft. Bei dieser Kombination sind schon einige virtuelle
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