Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Sicherheit nichts dagegen gehabt, dass man seine Sinfonien und Klavierkonzerte als Motivation zu körperlicher Anstrengung, welcher Art auch immer, einsetzt. Ich finde es letztlich auch angemessener, mit einer guten Flasche Rotwein, das Libretto oder die Partitur auf dem Schoß, einer Aufnahme zu folgen. Nur eben nicht ausschließlich.
Bei Opern bestimmt logischerweise die dramatische Situation den Widerstand. Beim dritten Akt von Cherubinis ›Medea‹ oder dem ›Siegfried‹-Finale ist ein 170er Puls drin. Auch die guten alten Tanten ›Turandot‹ und ›Aida‹ (übrigens zwei der größten Kunstwerke aller Zeiten und Völker) bieten erhebliche Steig(er)ungen. Na, und die Gelegenheit, im dritten Akt mit Tristan mitzusterben, sollten sich Empathie-Muffel wie eben beispielsweise ich nicht entgehen lassen.
Eine beachtliche Fülle Spinning-kompatibler Werke stammt übrigens von Philipp Glass, dessen repetitive Musik ohnehin auf rhythmische Suggestion und Trance-Erzeugung zielt. Ich glaube, es war bei ›Satyagraha‹, als ich plötzlich kapierte, warum die Neger beziehungsweise Schwarzen beziehungsweise Afroamerikaner, warum die Mohren also in ihren Kirchen tanzen. Dass ansonsten beinahe alle Welt beim Gottesdienst (oder in der Oper) still sitzt, mag eine gewisse formelle Notwendigkeit für sich haben, ist jedoch möglicherweise im spiritualitätsgenerierenden Sinne falsch. Es gibt ja auch
Power-Meditation
. Warum soll nicht zugleich mit der seelischen die körperliche Erhitzung forciert werden (oder umgekehrt)?
Spinning, recht betrieben, führt in einen solchen erhöhten Zustand, zumal es sich vom Fahren draußen dadurch unterscheidet, dass man nicht auf die Strecke achten muss. Das heißt, man kann sich dem Entrücktsein hingeben, ohne dass Gegenverkehr auftaucht, die Straße schlechter wird oder das Wetter sich ändert.
Spinning ist Tanzen.
Und an guten Tagen, mit der passenden Musik, auch ein bisschen Gottesdienst.
Durchgängerei
oder:
Das erste Fahrrad
»Das Fahrrad ist das sehnsüchtig erwartete erste Transportmittel all jener von uns, deren Herzen gerne mit ihnen durchgehen. Unser erstes Fahrrad ist eine Sache der über Bordsteine springenden und durch Pfützen platschenden Befreiung; ein Fahrrad bedeutet Freiheit von Beaufsichtigung, von Fahrgemeinschaften und elterlichen Ausgangssperren.« Also sprach Lance Armstrong, bekanntlich ein Durchgänger der planetarischen Extraklasse.
Nun dürfte es in unserem Weltteil kaum einen gesunden Menschen geben, der nicht als Kind Fahrrad gefahren ist und dem also die von Armstrong beschriebene Befreiung nicht zuteil wurde – aber nur vergleichsweise wenigen davon brennen die Herzen dauerhaft pedalvermittelt durch. Ihre Befreiung bleibt eine zeitlich beschränkte, beziehungsweise sie setzt sich auf benzinbetriebenen Fluchtfahrzeugen fort, die hier nicht zur Debatte stehen. Ich muss einer der unbefreitesten Typen gewesen sein, denn ich habe als Kind nie ein Fahrrad besessen und mir mein erstes mit 23 Jahren gekauft. Es handelte sich um ein gebrauchtes Vehikel zweifelhafter Qualität, das mich 50 Mark der DDR gekostet hat und das ich ein paar Tage später komplett zu Schrott fuhr. Mit Anfang dreißig erwarb ich mein erstes fabrikneues Velo, ein Fünfgang-Nabenschaltung-Altherrenrad, auf dem man aufrecht saß, mit flatternden Sakkoschößen, und noch immer kam ich im Traum nicht auf die Idee, dass ich mit einem Gefährt diesesBauprinzips irgendwelche Berge erklimmen könne. Ja, ich kam nicht einmal auf den Gedanken, dass so etwas wie ein inniges Verhältnis zwischen mir und diesem rollenden Ding möglich sei.
Warum ich das erzähle? Weil mich bei diesen Reminiszenzen plötzlich die Erinnerung überfällt und Bilder zutage fördert, die mir seit vielen Jahren nicht mehr in den Sinn gekommen sind. Es stimmt ja
so
gar nicht, ich muss doch vorher irgendwie Radfahren gelernt haben ...
Wie konnte ich es bloß vergessen, mein erstes Fahrrad!
Es war strenggenommen nicht meins, sondern gehörte meiner Großmutter: ein grünes Damenfahrrad, mit einem auf Stahlfedern ruhenden, niedrig gestellten Ledersattel (aber was hieß für einen Knirps wie mich niedrig?), an dessen Lenker Oma immer ihre Einkaufsbeutel hängte, wenn sie ins Dorf fuhr, mit Rücktritt und selbstredend ohne Gangschaltung. Ich bin mir nicht sicher, ob es sich um ein bereits sozialistisches oder noch nationalsozialistisches Fabrikat handelte. Wie auch immer, Großmama brauchte es nicht allzu oft, und ich nahm
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