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Kleine Portionen

Kleine Portionen

Titel: Kleine Portionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moitzi
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wahr?«
    »Oh, ja«, sagt das kleine Mädchen und erschaudert. Dann dreht sie sich wieder zu mir her und fragt: »Aber warum zittert er, dein Hund?«
    »Sie ist gestresst«, erkläre ich.
    Das Mädchen kaut kurz daran, bevor sie fragt: »Was ist denn das – geskresst?«
    Überfragt flehe ich ihre Mutter mit Blicken um Hilfe an. Warum stellen diese kleinen Kinder immer Fragen, die man unmöglicher Weise mit Begriffen für Vier- oder Fünfjährige passend beantworten kann? »Dem Hund ist bang – ähem, er fürchtet sich«, sagt die Mutter schließlich und lächelt mich an.
    »Aber unsere Katze ist nicht geskresst, oder?«, fragt das Mädchen ihre Mutter.
    Die Tür öffnet sich, der Arzt lächelt mich an. »Entschuldigung, dass Sie so lange warten mussten, aber wir hatten einen Notfall …«
    »Ja, hab’ ich mitbekommen«, sage ich.
    »Du bist dran, Nina«, meint der Arzt. Ich reiche ihm die Leine. »Rufen Sie mich heute Nachmittag an«, sagt der Arzt. »Und machen Sie sich keine Sorgen – alles wird wieder gut.«
    Oh ja. Schön wär’s. Irgendwie fühle ich mich leer, als ich das Wartezimmer verlasse.

Die Fähre
     
    Am Freitag Abend fuhren wir mit der U-Bahn nach Piräus, dem Hafen im Süden von Athen. Wir bestiegen eine große Fähre, die uns für das Wochenende nach Mykonos transportieren sollte. Ich erinnere mich an die unglaublich großen Fähren und Kreuzfahrtschiffe, die im Hafen vor Anker lagen, schwarze Ausbuchtungen und Schatten, die sich vom Nachthimmel abhoben, einige von innen beleuchtet, schwimmende Hochhäuser, die still und regungslos auf dem schwarzen Gewässer trieben. Was folgte, war eine schier endlose und dumpfe Reise unter fortwährendem, lautem Motorbrummen. Zwei alte, griechische Ehepaare spielten am Nebentisch Karten, die Frauen plapperten und plapperten und plapperten, die Männer klickten und klackten mit ihren rosenkranzähnlichen Perlensträngen und bliesen fette, graue Rauchwolken an die Decke.
    Ich fragte Jean-Arnaud: »Glaubst du, die fahren auch nach Mykonos?«
    Er kicherte und antwortete: »Meine Güte, nein! Ihr Sohn vielleicht, zum Ficken, das schon. Aber seine Mama steigt eine Haltestelle früher aus, auf Tinos. Das ist eine Insel, auf die die Griechisch-Orthodoxen hinpilgern, um die Heilige Jungfrau Maria um einen Gefallen anzuflehen. Die Frauen rutschen auf den Knien eine steile Steintreppe hinauf und beten zu unserer Lieben Frau, dass ihr Sohn nicht schwul ist. Und währenddessen lässt sich der Sohnemann eine Insel weiter flachlegen!«
    Ich erinnere mich an das dunkle Meer, den verschleierten Himmel, den blassen, müden Mond, der von Zeit zu Zeit zwischen den Wolken auftauchte und seinen unwirklichen Schimmer auf die Wellen warf, welche die Fähre durchpflügte. Während ich durch die Korridore schlenderte, stieß ich auf eine polierte Kupferplatte, auf der stand: »MS Rosemary, Karibikkreuzfahrten, erbaut im Jahre 1901.«

Mykonos
     
    Ich verliebte mich sofort in die Kykladen-Architektur in Chora, in die engen, verwinkelten Gassen mit dem unregelmäßigen, grauen Kopfsteinpflaster und den weißen Fugen, in die niedrigen, alt aussehenden Häuser in weiß und türkis, in die Windmühlen auf dem Hügel, den malerischen alten Hafen, den jähzornigen Pelikan Petros.
    Mir gefiel Chora tagsüber besser, wenn die meisten Touristen – männlich, schwul, aus Deutschland oder den USA – am Strand lagen. Die Stadt gehörte vor allem zu Mittag ganz uns. Jean-Arnaud und Petros blieben in ihrem klimatisierten Hotelzimmer und ließen Grégoire und mich tun, was wir wollten. Wir schlenderten durch die leeren Straßen, bewunderten die Holztreppen, die kurvigen Gassen, die Balkone in »Little Venice«, den puren Himmel, die fotogenen Windmühlen. Wir sahen alten Männer zu, wie sie die Fundamente ihrer Häuser bleichten; junge Frauen fegten enge Gassen; wir verfolgten zerzauste Kätzchen in Sackgassen, atmeten den Geruch von Gegrilltem und Fisch ein; wir machten Fotos von malerischen Details, von bunten Blumen, die auf schiefen Wänden blühten, vom grenzenlosen, azurblauen Meer. Wir betraten stille Geschäfte, in denen ein Verkäufer halb eingeschlafen auf seinem Sessel saß, sein Gesicht einem summenden Ventilator entgegenstreckte, während eine Zigarette im Aschenbecher eines sinnlosen Todes starb.
    In der Nacht veränderte sich das Ambiente völlig. Der Geruch von Chanel und Dior und Mugler und Gaultier und Dolce & Gabbana pour Homme erfüllte die Luft. Es wurde schier unmöglich,

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