Kleine Portionen
Kilometer von der Abtei entfernt vor. Alle nickten mit gespielter Freude. Außer mir. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. »Ich bleibe lieber in meinem Zimmer«, erklärte ich mit stahlkalter Stimme. »Alleine. Es kommt nicht in Frage, dass ich mit Leuten wie euch eine Mahlzeit teile.« Ich drehte mich um und stampfte die Treppe in mein Zimmer hinauf. Ich hatte ein paar Schokoriegel mitgebracht und eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank im Sitzungssaal entwendet. Ich verbrachte den Abend damit, ein Buch zu lesen und mich anzutrinken und meine Twix zu knabbern.
Das war das unrühmliche Ende meines ersten Jobs. Ein düsteres Treffen mit schattigen Figuren aus einem zweitrangigen Film in einer düsteren Abtei und unter einem düsteren Himmel.
Klassische Musik
Der Neujahrsweckruf geht um 11 Uhr ab. Durch halb geschlossene, schlafverkrustete Augen starren wir auf den Bildschirm. Wiener Walzer und Polkas, üppige Blumen aus San Remo, funkelndes Glitzergold, auf unseren Zungen vermischt sich Polsteratem mit dem Geschmack von starkem Morgenkaffee. Der Hund liegt in einer Ecke zusammengerollt, erschöpft, als ob er auch erst um halb sechs ins Bett gekommen wäre.
In diesem Jahr werden die Wiener Philharmoniker von einem österreichischen Dirigenten Mitte fünfzig geleitet, der unscheinbar und unschuldig und ein bisschen verklemmt aussieht, wie ein angehender Priester. Tief in unsere Decke gekuschelt spülen Seb und ich die ersten Walzer und Polkas mit unserem Frühstücksgetränk hinunter. Aber als die beiden letzten Musikstücke durch die Wohnung klingen – der Donauwalzer und der Radetzkymarsch –, hat die erste kalt gestellte Flasche Champagner den Kaffee ersetzt.
Während wir uns die Live-Sendung ansehen, wandern meine Gedanken herum. Wie viele unvergessliche Momente habe ich in diesem prestigeträchtigen Goldenen Saal des Musikvereins verbracht! Am lebhaftesten erinnere ich mich an die Brandenburgischen Konzerte. Ah – der gute, alte und überaus langweilige Bach! Ich hatte die ganze Nacht durchgefeiert und erreichte den Musikverein eine Viertelstunde zu spät für meine Verabredung mit meiner Schwester. Sie sah herrlich aus, genauso, wie es sich gehörte: Seidenbluse, schicke schwarze Hose, teure Jacke, hochhackige Schuhe, Perlen baumelten von ihren Ohren. Ich hingegen war ich selbst geblieben, ohne Sorgen, ohne Aufwand, unprätentiös, und trug Jeans, ein T-Shirt, Turnschuhe, eine Jeans-Jacke. Und den zerknitterten Gesichtsausdruck von jemandem, der nicht genug geschlafen hatte.
Wir eilten hinein und nahmen unsere Plätze ein.
Man stelle sich vor! Nicolas Harnoncourt! Der »Concentus Musicus«, Harnoncourts weltberühmtes Barockensemble! Bach! Auf barocken Originalinstrumenten gespielt! Ein Konzert im Musikverein, einem der weltweit besten und schönsten Konzertsäle! Ein unvergessliches Erlebnis. Nein, ein ausgewachsener, musikalischer Orgasmus!
Pling-pling, doing-doing, schdung-schdung begann die Musik. Ich beobachtete die Menschen um uns herum in ihren Sonntagskleidern – alle lauschten sie mit Entzücken, Glückseligkeit, Verehrung den Bachmelodien, welche das Ensemble durch die riesige Halle sandte. Eher zu dünnlich und schwach für meinen Geschmack. In meinen Ohren klingelte noch eine ganze Nacht BUMM!-BAMM!-BOING! nach. Die steinalt-ehrwürdigen Instrumente, auf denen die »Concertus«-Musiker spielten, brachten hingegen bloß ein paar schwache Wiedel-fiedel-zam-zams hervor …
Nach fünf Minuten drehte meine Schwester sich scharf zu mir um. »Wie lange dauert das noch?«, zischte sie.
»Mal schauen«, flüsterte ich zurück. »Das ist jetzt der erste Satz des ersten Konzerts. Es gibt drei Sätze pro Konzert, sechs Konzerte in allem, glaub’ ich.
Sie rollte vor Verzweiflung ihre Augen. Mir fiel es auch schwer, wach zu bleiben; von Zeit zu Zeit nur weckte mich donnernder Applaus aus meinen Baumwollträumen.
In der Pause flohen meine Schwester und ich. Wir stießen am Ausgang auf eine meiner Kommilitoninnen. »Ist das nicht eine echte Wonne?«, zwitscherte sie begeistert. »Der Zauber dieser Musik!«, und machte sich vor Glückseligkeit fast ins Höschen.
»Für mich klingt das wie dumpfe Scheiße«, meinte ich herzlos, aber ehrlich. »Ich meine, das klingt falsch. Wenn man mal, was selten ist, tatsächlich hört, was sie spielen …«
Ich dachte, meine Kommilitonin würde ohnmächtig umfallen. »Dumpfe … Scheiße?«, keuchte sie. »Falsch? Das ist Harnoncourt! Die spielen auf …
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