Kleine Schiffe
Familie in ihn setzt, und den Opfern, die seine Eltern für seine Ausbildung gebracht haben. Tina gesteht offen ihre Angst vor dem Alter, ich amüsiere die anderen mit einer naturgetreuen Wiedergabe meines Wutausbruchs in der Küche. Erich beichtet sein Gefühl, dass seine Frau ihn für einen Versager hält, weil er in seinem Versicherungsbüro kürzlich zum zweiten Mal bei der Beförderung zum Abteilungsleiter übergangen worden ist.
»Ich glaube, ich bin nicht der einzige stranded person!«, sagt Cheng.
Erich gibt zu, dass er den Streit mit seiner Frau letztlich selbst vom Zaun gebrochen hat, weil er seinen Schwiegervater nicht ausstehen kann. »Keiner kann den leiden, nicht mal meine Frau. Aber es ist halt ihr Vater.« Schuldbewusst runzelt er die Stirn. »Und jetzt habe ich sie mit dem Kerl allein gelassen.«
Cheng klopft ihm aufmunternd auf die Schulter. »Morgen ist neuer Tag!« Und er fügt lachend hinzu: »Und morgen Schwiegervater ist gone!«
Wir verlassen die Bar erst in den frühen Morgenstunden. Als wir auf die Straße treten und zum Taxistand laufen, erklingt Akkordeonmusik. In einem Hauseingang kauert ein dick vermummter Straßenmusikant, der sein Spiel unterbricht, als er uns sieht. Auffordernd hält er uns seine Hand hin. »Kleingeld?«
Cheng greift sofort in seine Tasche. »Spielen für uns?«
»Was du wollen?«, fragt der Musikant mit starkem slawischem Akzent. Man sieht von ihm nur die Augen. Alles andere ist hinter Mütze und Schal verborgen. Seine Hände stecken in Handschuhen, die alte, runzlige Finger freilassen.
»Wie wäre es mit einem Walzer?«, fragt Erich.
Der Musikant nickt und beginnt zu spielen.
»Das ist der Dornröschen-Walzer von Tschaikowski«, verkündet Erich zur allgemeinen Überraschung. »Tja, ich habe mal ein halbes Jahr Geigenunterricht gehabt«, erzählt er. Dann verbeugt er sich vor mir, bietet mir galant den Arm und wirbelt mich sicher und gekonnt im Walzertakt über den Fußgängerweg. Und ich, die ich zuletzt in der Tanzstunde Walzer getanzt habe, schwebe mit ihm die Straße entlang. »Du tanzt gut«, sagt er bei einer Drehung. »Aber, nimm’s mir nicht übel: Am liebsten tanze ich mit meiner Frau!«
Ich verspüre einen eifersüchtigen Stich. Wie schön wäre es, wenn Andreas diesen Satz einmal gesagt hätte! Doch wir haben nie miteinander getanzt. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass sich Tina und Cheng ebenfalls wiegen. Der Asiate bewegt sich leicht und geschmeidig und hat die Augen geschlossen. So tanzen wir durch die leere Straße.
Nach einer Weile wird Erich langsamer, dann beugt er sich über meine Hand, deutet einen Handkuss an und tritt zurück. »Vielen Dank für diesen Weihnachtsabend, Franziska!«, sagt er. »Und viel Glück mit deinen Männern.« Er winkt Cheng und Tina zu und verschwindet mit schnellen Schritten in die Dunkelheit.
Cheng überlässt das erste Taxi Tina und mir. Wir verabschieden uns herzlich mit vielen Verbeugungen und Gelächter. Cheng nötigt uns beiden seine Visitenkarten auf.
»Hongkong!«, liest Tina und verspricht: »Natürlich besuche ich dich, wenn ich das nächste Mal dort bin!«
Als ich mich aus dem Rückfenster des Taxis nach ihm umblicke, steht er noch neben dem Akkordeonspieler. Wir fahren erst zur Wiesenstraße, dann fährt Tina weiter zu sich. »Wir telefonieren morgen!«, ruft sie zum Abschied.
Auf Zehenspitzen tappe ich in mein Haus. Mich erwartet ein wahrlich weihnachtliches Bild. Im Wohnzimmer vor dem erloschenen Kamin liegen auf einem Lager aus Bett-und Wolldecken meine heiligen drei Könige Papa, Andreas und Simon. Statt Gold und Myrrhe haben sie den Christkindern Amélie und Lisa-Marie, die in einer Buggy-Krippe schlafen, Spielkarten und Bierflaschen in großer Anzahl dargeboten. Während Bim fast in ihrer Decke versinkt, liegt Mi auf dem Rücken, und ich streiche sanft über ihre Stirn und dann über ihre Händchen, greife nach ihrem rechten Daumen. Mir fällt der Flohmarktverkauf meiner Bastelsachen ein, der uns damals fast dreißig Euro eingebracht hat. Ich denke an Lillis Überzeugung, dass ich mir mit meinen Bastelsachen ein Geschenk gemacht habe und von dem Geld, für das wir Nudeln essen gegangen sind, der rechte Daumen von Amélie gewachsen ist. Wie sehr mir Lilli fehlt.
Über dem Nachtlager blinkt ein silberblauer Weihnachtsstern, den jemand an der Deckenlampe befestigt hat. Andreas schläft mit offenem Mund und schnarcht leise wegen seiner verstopften Schnupfennase. Von Papa sehe ich nur einen
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