Kleine Schiffe
sind. Nichts scheint unmöglich. Ich streichele meinen Bauch. Willy wird in eine neue Zeit geboren.
Bereits in meiner ersten Yoga-Stunde treffe ich dort Lilli. Und nichts in meinem Leben ist mehr wie vorher.
Die Yoga-Schule befindet sich in einer ehemaligen Fabriketage. Der große luftige Raum ist weiß gestrichen, der helle Holzfußboden schimmert warm. Gemeinsam mit fünf anderen schwangeren Frauen, alle zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig, liege ich auf einer Matte und atme tief und regelmäßig. Ich fühle mich ein wenig verloren, obwohl die Yoga-Lehrerin Amrita, eine braungebrannte und schlanke Frau Ende fünfzig, mich freundlich begrüßt hat. Aber ich passe nicht ins Bild, in der ausgeleierten Gymnastikhose und meinem schlabberigen T-Shirt mit dem verwaschenen Aufdruck einer Segelregatta, die Andreas in den neunziger Jahren gesegelt ist. Die anderen tragen weiche Yoga-Stretchhosen, erwähnen, dass ihre Shirts aus einem speziellen Lycra-Baumwoll-Gemisch sind, und tauschen sich mit Blick auf mich besonders laut über einen Online-Yoga-Shop aus, bei dem man Yoga-Kissen mit Dinkelfüllung bestellen kann. Dinkelfüllung! Bei der Vorstellungsrunde müssen wir unsere Namen und unser Alter nennen und vom Vater des Kindes erzählen. Obwohl doch heutzutage alles möglich ist, werfen sich die anderen verstohlene Blicke zu, als ich mich vorstelle. Ob es an meinem Alter liegt oder daran, dass ich auf Nachfragen wahrheitsgemäß sage, dass ich das Kind allein aufziehen möchte, weiß ich nicht. Die anderen reden von ihrem Partner, ihrem Freund oder ihrem Mann. Diese Männer haben Jobs und scheinen gut zu verdienen. Mich scheinen sie für eine Versagerin zu halten, weil ich geschieden bin. Sie haben nur ein sehr aufgesetzt wirkendes Lächeln für mich übrig. Das kann natürlich auch daran liegen, dass sie einander schon kennen und ich »die Neue« bin. Glücklicherweise hat mich keine als mutig bezeichnet.
Amritas Stimme erhebt sich beruhigend über dem leisen Geplätscher eines Zimmerspringbrunnens in der Ecke. »Die Schwangerschaft ist eine sehr herausfordernde Zeit in eurem Leben. Yoga wird euch helfen, Vertrauen in die eigene Kraft zu entwickeln und zur Ruhe zu kommen.«
Als sie das Wort »Ruhe« ausspricht, wird die Tür mit einem lauten Krach aufgerissen: Eine Frau, nein, wohl eher ein Mädchen, stolpert in den Raum. Ihre deutlich schwarz gefärbten, hochtoupierten Haare erinnern an ein zu Recht verlassenes Vogelnest, ihre Augen sind dramatisch schwarz ummalt, an ihren Ohren hängen giftgrüne Weihnachtskugeln. Ihr Kleidungsstil ist eine Mischung aus Punk, Altkleidersammlung und Kaufhaus-Boutique: grellgelbe Leggings, schmuddelige graue Turnschuhe ohne Schnürsenkel, abgeschnittene Bermudashorts, die irgendwann einmal eine lange Hose waren – mit Fischgrätenmuster! Und über allem ein wallendes Oberteil, das zwischen Zelt und Blusenkleid oszilliert. Quer über dem schmalen Oberkörper trägt sie den Henkel einer Kuriertasche, in beiden Händen hält sie prall gefüllte Plastiktüten, die sie jetzt fallen lässt. Eine kippt um, und ein Apfel kullert heraus, direkt auf meine Matte. Ich richte mich auf und halte das flüchtende Obst an.
Das Mädchen kaut auf seinem Kaugummi und lächelt mir zu. Dabei entblößt es hinter den knallrot geschminkten Lippen perlweiße Zähne. Aber wie dieses Mädchen lächelt! Unwillkürlich muss ich an samtige Pfirsiche denken, die im Sommersonnenschein in einem Korb rosig und golden leuchten. »Kannst du gern behalten!«, sagt das Mädchen mit heiserer Stimme, die nach einem Jungen im Stimmbruch klingt. Sie sagt: »Kannze jern behalten« – Berlinisch ist selten in Hamburg. In ihren Ohren stecken Kopfhörer – deshalb spricht sie viel zu laut.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass die anderen Schwangeren sie misstrauisch mustern. Amrita schwebt auf das Mädchen zu und nimmt ihm vorsichtig die Stöpsel aus den Ohren.
Die Weihnachtskugeln klingen leise. »Oh, ja, nee, klar, sorry!« Das toupierte Wesen grinst zuvorkommend und schaltet seinen MP3-Player aus. »Elvis kann man nur laut hören.« Sie streckt Amrita die rechte Hand entgegen. »Bin zu spät, Entschuldigung!« Sie sagt »Tschulli« statt »Entschuldigung«.
Amrita nickt ihr zu und zeigt auf den Boden neben mich. »Da ist noch Platz.«
Die anderen atmen hörbar erleichtert auf. Ich muss grinsen. Klarer Fall, Amrita packt die beiden Außenseiterinnen zusammen: Miss Punk und das Mittelalter, während die Mütter im
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