Kleine Schiffe
»total Probleme« bekam. Vergnügt prustet sie bei der Erinnerung daran Kuchenkrümel über den Tisch. »Wenn du in Berlin zum zweiten Mal in eine Kneipe kommst, sagt der Typ hinter der Bar: ›Wie imma, Mäuschen?‹« Sie greift sich in die stetig rutschende Frisur. »Und hier?« Lilli legt die Gabel auf den Teller, strafft den Oberkörper, hebt arrogant die Nase und näselt: »Nun? Was darf es für Sie sein?« Kopfschüttelnd macht sie sich wieder über den Kuchen her. »Mensch, ich bin doch nicht bekloppt! In Berlin gehst du raus, damit du andere Leute triffst. Da quatscht jeder mit jedem, quer durch die Kneipe von Tisch zu Tisch. Als ich das einmal in Hamburg gemacht habe, haben die mich angeglotzt, als ob ich eine Qualle aus’m Weltall wäre!«
Mir fällt auf, dass Lilli versucht, meiner Frage nach dem Grund ihres Umzugs mit ausufernden Schilderungen über Hamburger und Berliner Unterschiede auszuweichen. Also hake ich nach: »Warum bist du denn nun nach Hamburg gekommen?«
Lilli runzelt die Stirn. »Das ist privat.«
Erschrocken sehe ich sie an. Sie hat ja recht. Wieso sitze ich hier eigentlich wie beim Stasi-Verhör und quetsche sie aus? Lilli tätschelt meinen Arm. »Mach dir nicht gleich ins Hemd, Franziska. Ich hab’s nicht böse gemeint. Also: Ich bin auf der Suche nach meinem Vater!«
Es stellt sich heraus, dass Lilli ihren Vater nicht kennt, weil der ihre Mutter verlassen hat, als sie noch ein Baby war. Bis heute hat sie ihn nicht gefunden.
»Welche Anhaltspunkte hast du denn überhaupt, dass er in Hamburg ist?«
Lilli zuckt mit den Achseln. »Es gab mal eine Postkarte und eine Adresse. Da lebt er zwar nicht, aber ich weiß, dass er hier irgendwo rumläuft. Und eines Tages finde ich ihn.«
»Und der Vater deines Kindes?«
Lillis Gesicht hellt sich auf. »David? Ach ja, David!« Beim zweiten Stück Apfelkuchen verrät sie mir mit dem verschwörerischen Tonfall einer Siebtklässlerin, dass sie nicht so recht weiß, ob sie David liebt oder doch eher nicht. Sie legt ihre Kinderstirn in zwei dicke Falten. »Weißt du, das ist nicht so einfach. Was heißt schon lieben? Ich liebe beispielsweise Fußball, also ich schwärme für die Jungs aus Liverpool. Du weißt schon, FC Liverpool. Die Reds.« Sie fügt rätselhafterweise hinzu: »Das muss ich ja. Schon wegen Elvis!«
»Wer ist Elvis?«
Lilli mustert mich entsetzt. »Du weißt nicht, wer Elvis ist? Na, Elvis Presley. Elvis the pelvis. Elvis, der größte Sänger der Welt.«
»Natürlich kenne ich Elvis Presley. Aber der ist doch tot«, wehre ich mich.
Lilli widerspricht: »Elvis ist nicht tot! Der ist unsterblich.« Sie macht eine kleine Pause und lächelt bedeutungsvoll. »Mein Vater sah so aus wie Elvis. Bei den Sachen meiner Mutter hab ich mal ein Foto von ihm gefunden.«
»Aber was hat Elvis Presley mit Fußball und dem FC Liverpool zu tun?«
Lilli schiebt die Unterlippe über die Oberlippe und schmatzt tadelnd. »Das weiß doch jedes Kind!« Sie beugt sich vor und teilt mir im Ton einer geduldigen Nachhilfelehrerin mit: »Die Hymne von Liverpool ist ›You’ll never walk alone‹. Und keiner singt das besser als Elvis. Hier!« Sie wühlt in ihrer Kuriertasche, holt den MP3-Player hervor und stopft mir gegen meinen Widerstand ihre Kopfhörer in die Ohrmuscheln.
Die Stimme des Kings erklingt, aber Lilli gibt mir nicht viel Zeit zum Hören und rupft mir die Kopfhörer wieder aus den Ohren.
»Das geht ans Herz, oder?« Bevor ich etwas sagen kann, fährt sie fort: »Ich wollte doch von David erzählen. Elvis ist ja nur ein Beispiel. Ich liebe Elvis. Das weiß ich genau. Aber David? Das ist mal so und mal so.« Sie streckt den Daumen erst hoch und dreht ihn dann nach unten.
»Was ist er denn für ein Typ?« Ich richte mich innerlich auf eine ähnliche Ablehnung wie bei der Frage nach ihrem Vater ein. Doch obwohl es wieder »privat« wird, grinst mich Lilli nur um Verständnis heischend an. »Na, so’n typischer Reiche-Leute-Sohn. Verwöhnt bis dort hinaus. Die Eltern haben mächtig Kohle, der Alte ist Steuerberater oder so. Natürlich sind Mutti und Vater piekfein und wollen mit dem Bastard nichts zu tun haben.« Sie legt die Hand schützend auf ihren Bauch. »Aber das ist mir wurscht. Die sollen nur zahlen.« Ihr Gesicht hellt sich nach einer kurzen Pause wieder auf. »Von wegen Bastard. Ist mir egal, ob es ein Junge wird. Selbst ein Mädchen würd ich Elvis nennen … Guck mal!« Sie zieht den Rand der Leggings von ihrem linken Knöchel
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