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Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schuetze
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Nachwuchs schon mit dabei.« Unser Nachwuchs!
    Papa hatte mir bereits am zweiten Advent seinen Weihnachtsplan erläutert. »Franzi, ich möchte gern mit Rudi und Helmut feiern. Genauer gesagt: Ich lade die beiden ein, mit meinen Leuten vom Seniorenmittagstisch zu essen. Und zu dir komme ich dann am ersten Feiertag.«
    Nach dem Gottesdienst winkt er einer Gruppe älterer Leute zu und zeigt auf mich. »Das ist meine Tochter Franziska!«
    Die Angesprochenen winken freundlich zurück, und ein breitschultriger Mann mit rotem Gesicht und grauen Stoppeln ruft mit kratziger Stimme einen Weihnachtsgruß herüber.
    »Das ist Kuddel«, erklärt mein Vater sichtlich pikiert. »Nicht gerade mein Liebling, aber er isst wenigstens immer alles auf.« Er grinst verschmitzt. »So einen hast du ja jetzt auch im Haus.« Natürlich ist ihm aufgefallen, dass Simon seit dem Einbauen des Dimmers in meinem Zimmer mittlerweile ein häufig gesehener Gast an unserem Küchentisch ist. Lilli und ich sind sehr froh darüber. Lilli wegen Simons handwerklichem Geschick. Und ich …
    Silvester verbringen wir mit Tina. Das ist ein Ritual zwischen Tina und mir – wir haben viele Jahre auch gemeinsam mit Andreas und Tinas jeweiligem Begleiter gefeiert, der mitunter zu Andreas’ Freundeskreis gehörte. In den letzten beiden Jahren sind Tina und ich zu zweit essen gegangen und haben dann am Hafen mit Tausenden Hamburgern das Feuerwerk erlebt.
    Diesmal ist alles anders: Wir sehen mit Lilli »Dinner for One« im Fernsehen und stoßen vor dem Kamin mit alkoholfreiem Sekt an.

    Meine Mutter hat immer gesagt: »Manches kann man sich nicht vorstellen, manches muss man selbst erleben.« Einmal wollte ich wissen, wie es sich anfühlt zu fliegen. Mama ging mit mir zur Schaukel auf dem Spielplatz und ermutigte mich, abzuspringen, wenn ich richtig viel Schwung hatte. »Fliegen dauert länger – wir Menschen sind viel zu schwer, wir können nicht allein fliegen wie Vögel. Aber wir können schaukeln – und springen. Und das ist auch schon schön, oder?« Als ich meine Angst überwunden hatte, konnte ich damit gar nicht mehr aufhören. Und schon heute freue ich mich darauf, mit Willy schaukeln zu gehen und ihm das »Fliegen« beizubringen. Ich wollte auch wissen, wie es ist, tot zu sein – aber nur so lange, wie Mama lebte. Wollte wissen, wie Sekt schmeckt. Das erfuhr ich bei meiner Konfirmation und mochte es sofort – sehr zur Sorge von Papa. Auch, wie es ist, einen Jungen zu küssen, war im echten Erleben radikal anders als in meiner Vorstellung.

    Die Bedeutung von Mutters Bemerkung über das, was man beschreiben und sich vorstellen kann, und das, was man selbst erleben muss, wird mir an einem regnerischen Sonntagnachmittag im Januar erneut klar, als ich in der Küche Sahne schlage. Aus dem Wohnzimmer dringen Gelächter und Gesprächsfetzen herüber. Lilli und ich haben Tina zu Kaffee und Kuchen geladen – ein gemütliches Ritual am Wochenende, das wir eingeführt haben, seit wir immer unbeweglicher geworden sind. Die Zeit der Sekt-auf-Eis-Tradition ist vorbei: Es lebe der Kaffeeklatsch! Tina bringt Lilli häufig eine Kleinigkeit mit, eine Haarspange, ein Armband, eine Parfümprobe. Lilli dankt ihr diese kleinen Verwöhnungen nicht nur mit glücklichem Quietschen und Umarmungen, sondern auch mit kostenlosen Haarschnitten. Wenn ich beide nicht sosehr mögen würde, könnte ich auf die Innigkeit ihrer Beziehung eifersüchtig werden. Dass die Unvermeidlichen Papa beim Sonntagsspaziergang begleiten und dann alle »zufällig« gegen halb vier Uhr bei uns vor der Tür stehen – auch daran haben wir uns gewöhnt. Es ist mittlerweile ja sogar recht gemütlich. Papa hat eigentlich immer etwas Leckeres dabei, und Rudi – oder Helmut? – hat sich als Schatztruhe für lustige Spiele erwiesen. Ihm ist es zu verdanken, dass sowohl Tina als Lilli passionierte Sängerinnen des Liedes »Ein kleiner Matrose« geworden sind und wir uns alle beim »Ministerstürzen« (einem recht komplizierten Klatsch-und Schnipsspiel) köstlich amüsieren. Diesmal hat Papa selbstgebackene Linzer Torte mitgebracht, für die ich schon als kleines Mädchen geschwärmt habe und deren feiner Duft nach Nelken und Schokolade verheißungsvoll in meine Nase steigt.
    Lilli und ich können inzwischen wieder normal essen, nachdem wir während der Schwangerschaft abwechselnd von befremdlichen Gelüsten (bei mir Dosenfisch in Senfsoße, bei Lilli Kartoffelpüree) und Abneigungen (bei mir gegen Eier, bei

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