Kleine Schiffe
überhaupt kein Interesse daran, mir zu helfen. »Du hast nie gewusst, wer ich bin. Du hast mich nie wahrgenommen. Du und deine eingeschworene Sportclique. Ihr wart ja immer so großartig! Habt am Wochenende Turniere gespielt und Spaß gehabt. Ich fand euch damals schon blöd.« Mit diesen Worten lässt sie mich stehen.
»Da bist du ja endlich!« Eine vergnügte Stimme reißt mich aus meinem Schreckmoment. Julia und Petra stehen vor mir – und die haben sich wirklich kaum verändert. Nur ein paar Falten im Gesicht. Julia ist Krankengymnastin, Petra jobbt Teilzeit im Büro eines Tennisclubs. Julia zupft an meinem Ärmel. »Tolle Bluse! So eine wollte ich mir letztens kaufen, aber ich habe mich nicht getraut. Ich dachte, die ist vielleicht zu ausgeflippt. Aber jetzt ärgere ich mich.«
Petra nickt. »Franzi war schon immer unser stilles Wasser. Du hast dich immer im Hintergrund gehalten – aber vorne am Netz kam keiner an dir vorbei.«
Julia kichert. »Stimmt! Wir nannten Franzi damals die Mauer!«
Und dann geschieht etwas Erstaunliches: Die letzten Jahre fallen von mir ab. Den anderen scheint es ebenso zu gehen, wir müssen uns keinerlei Mühe geben, um ins Gespräch zu kommen. Im Gegenteil, wir reden wie Wasserfälle, fragen uns Löcher in den Bauch, unterbrechen uns lachend. Wir reißen alte Witze, wärmen Erinnerungen auf und kichern genauso atemlos wie auf unseren Fahrten zu Auswärtsturnieren.
»Wisst ihr noch, als wir damals in Bad Bramstedt gegen die Schulmannschaft angetreten sind?«, fragt Julia. Petra und ich nicken und lächeln in uns hinein. In den Stunden vor dem Spiel sind wir durch das Städtchen gebummelt und haben uns Kirschen gekauft. Kirschkernspuckend stolzierten wir durch die Straßen und fühlten uns unbesiegbar. »Haben wir damals eigentlich gewonnen?«, frage ich. Julia zuckt mir den Achseln. Und ich weiß, dass gleichgültig ist, wer damals gewann. Denn dieses Gefühl der Unangreifbarkeit entstand nicht durch den sportlichen Erfolg, sondern durch das Zusammensein mit den anderen. Wir lachen und erzählen. Das Ambiente des Restaurants schreckt mich nicht mehr – endlich entspanne ich mich in dem schönen Raum. Ich vergesse sogar den Fleck auf meiner Bluse. Petra und Julia haben jeweils große Kinder. »Mein Ältester hat mich vorhin hierhergefahren, der hat schon den Führerschein!«, erzählt Petra. Mir versetzt das befremdlicherweise einen kleinen Stich, weil Petras Sohn ungefähr in Simons Alter sein muss. Wieso fällt mir Simon ein?
Julia ist geschieden, lebt aber schon seit Jahren mit ihrem neuen Partner zusammen. Gemeinsam haben sie vier Kinder zwischen acht und siebzehn Jahren. »Patchwork eben!«
»Und du?«
Beide sehen mich erwartungsvoll an. »Warst du damals nicht in Michel … oder bringe ich da etwas durcheinander?«, fragt Julia.
Ich winke ab, kann aber nicht verhindern, dass ich rot werde.
»Da war nichts. Aber … ich bin vor ein paar Monaten Mutter geworden.«
»Das wievielte?«, fragt Petra.
»Das erste.«
Petra fasst sich bald wieder. »Herzlichen Glückwunsch! Hast du ein Foto dabei? Ein Junge, ein Mädchen? Wie groß, wie schwer?« Als ich das Foto aus meiner Tasche krame, das ich auf Lillis Anraten für den heutigen Abend vorbereitet habe, ist sie begeistert. Julia ist aber deutlich gedämpfter. »Da hast du dir ja etwas vorgenommen«, sagt sie und gibt mir das Bild zurück. »Ich beneide dich nicht darum, dass du schon fast sechzig sein wirst, wenn Amélie in die Pubertät kommt. Bei uns scheint ständig mindestens einer in der Pubertät zu sein, und wir Eltern gehen total auf dem Zahnfleisch!«
Petra nickt. »Ja, die Pubertät dauert einfach zu lange. Sie fängt mit elf Jahren an und ist mit über zwanzig noch nicht abgeschlossen!«
Beide lächeln sich verstehend an. Ich fühle mich ein wenig ausgeschlossen, und gleichzeitig spüre ich erneut so ein Stechen – und ja, mir fällt schon wieder Simon ein. Aber es gelingt mir erfolgreich, diese Gedanken zu verdrängen.
Mitunter taucht Michel in meinem Gesichtskreis auf, und je häufiger ich ihn anschaue, desto mehr von dem Jungen erkenne ich in dem Mann. Er lacht viel und laut – das klingt schön und sympathisch. Aber ich traue mich nicht, ihn anzusprechen, und auch er wirft mir nur Blicke aus der Distanz zu.
Eins muss man Babette lassen, bei der Restaurantwahl hatte sie ein Glückshändchen. Wir müssen nicht einmal überlegen, was wir essen möchten, denn als wir uns hinsetzen, werden die Tische in
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