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Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schuetze
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von dieser Roswitha und Heiner Wittkowski und seinen Gehhilfen. Als ich an dieser Stelle angekommen bin, überwältigen mich erneut die Tränen. »Vielleicht hat sie recht«, presse ich zwischen zwei Schluchzern heraus. »Was ist, wenn ich Amélie als alte Mutter blamiere? Vielleicht schämt sie sich ja eines Tages für mich …«
    Simon hat aufmerksam zugehört. Er nimmt mir das Glas aus den Händen, legt den Arm um meine Schulter und drückt mich tröstend an sich. »Franzi, das wird nicht geschehen, davor brauchst du keine Angst zu haben.«
    »Und was, wenn doch?«
    Simon zieht mich noch ein wenig näher an sich heran. Sein schlanker Körper ist überraschend groß, und ich habe das Gefühl, in seinen Armen Schutz zu finden wie im Regen unter den Ästen eines Baumes. Mein Gesicht liegt an seiner Brust, sein Herz schlägt beruhigend regelmäßig.
    »Hast du früher mal ›Sesamstraße‹ gesehen?«, fragt Simon.
    Überrascht richte ich mich auf. »Ja, wieso?«
    Simon drückt meinen Kopf wieder an seine Brust. Während er mit der anderen Hand meinen Rücken streichelt, erzählt er: »Es gibt eine Geschichte in der ›Sesamstraße‹, die mir gerade einfällt. Eine Geschichte, die mit diesen lustigen Stoffpuppen gespielt wurde. Du weißt schon, wie auch Ernie und Bert welche sind.« Ich nicke.
    »In der Geschichte sucht ein kleiner Junge verzweifelt seine Mutter. Dem König fällt der suchende Junge auf, und er verspricht dem Kleinen, ihm zu helfen.«
    Simons Worte wecken bei mir Erinnerungen an meine ersten Fernseherlebnisse. Die ›Sesamstraße‹ um sechs Uhr abends war damals für mich so etwas wie für die Erwachsenen die Tagesschau um acht: der Abschluss des Tages. Danach kam noch das Sandmännchen, und dann musste ich ins Bett. Ich liebte Ernie und Bert und Professor Hastig. Aber am meisten liebte ich Grobi, dieses blaue, schusslige Monster, das sich stets über die Grenze der Erschöpfung hinaus verausgabte und in seinem Wunschtraum als Supergrobi über den Himmel sauste. Dabei plumpste er meist wie ein Sack Kartoffeln auf die Erde.
    Ich sehe die Puppen mit ihren Froschmäulern und schiefen Augen vor mir, als Simon erzählt: »Der König fragt den Jungen: ›Wie sieht deine Mutter aus? Wir müssen wissen, wie sie aussieht, um sie finden zu können.‹ Der Junge sagt: ›Das ist einfach. Meine Mutter ist die schönste Frau der Welt.‹ Der König befiehlt, dass sich alle schönen Frauen im Land bei ihm melden sollen. Daraufhin paradieren alle möglichen schönen Frauen am König und dem Kleinen vorbei: blonde mit langen Locken, welche mit goldenen Kleidern und funkelnden Schleiern, kleine, große, dicke, dünne. Aber jedes Mal sagt der Junge: ›Nein, das ist nicht meine Mutter. Meine Mutter ist viel, viel schöner!‹ Als alle verzweifelt aufgeben wollen, weil sich diese wunderschöne Frau nicht finden lässt, schiebt sich ein altes, verhutzeltes Weiblein weit hinten in den Thronsaal.« Simon sagt tatsächlich »Weiblein« wie auf einer alten Märchenkassette. »Der kleine Junge schreit plötzlich: ›Da ist ja meine Mutter!‹ Er rennt zu dem Weiblein und umarmt es. Der König fragt: ›Das ist deine Mutter? Ich dachte, deine Mutter wäre die schönste Frau der Welt!‹ Der kleine Junge sieht den König überrascht an und sagt: ›Ja, genau!‹« Simon richtet sich und damit auch mich etwas auf. Er streichelt meine Wange, wischt mir mit einem Finger zart eine Träne weg … und dann küsst er mich.
    Ich bin vierundvierzig, Simon ist so jung, ich bin eine geschiedene Mutter … aber dann, ich weiß nicht warum, lasse ich mich nicht nur küssen, sondern erwidere zögernd seinen Kuss. Seine Lippen fühlen sich angenehm und nach wenigen Minuten schon vertraut an. Er schmeckt gut.
    »Franzi«, murmelt Simon, als wir wieder zu Atem kommen. Er lässt mich nicht los. In seinen Augen lese ich Lust und Zärtlichkeit, aber auch Unsicherheit und Zweifel. Wahrscheinlich denkt er ähnlich wie ich. Schließlich könnte ich seine Mutter sein. Aber keiner von uns sagt ein Wort. Wir sehen uns nur an. Und dann küssen wir uns wieder. Simons Hände streichen über meine Schultern und die Hüften. Langsam gleiten sie zu meinen Brüsten. Ich zucke zusammen. Ich stille zwar nicht mehr, aber in den vergangenen Monaten sind meine Brüste nur von meinem Baby berührt worden.
    Simon weicht etwas zurück. Seine Augen blicken mich unverwandt an, als er aufsteht und langsam, so langsam, sein Hemd aufknöpft. Er hebt fragend seine

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