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Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schuetze
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nicht so einfach, herauszubekommen, warum sie weinen. Nicht wahr?«, kommentieren alte Damen oder andere Mütter, und im Nu ist ein Gespräch im Gange. Aber auch größere Kinder oder Geschäftsmänner mit Aktentasche schauen in den Kinderwagen und wollen wissen, wie alt Amélie ist.
    Und ich, die früher kein Wort herausbekam, wenn mich Fremde ansprachen, ich antworte. Amélie macht mich stark. Für sie muss ich entscheiden, Verantwortung übernehmen. Ich muss sie schützen. Ich darf nicht zaudern, kann mich nicht verkriechen und hoffen, dass ein anderer entscheidet, was zu tun ist, wenn sie weint. Ich bin wichtig. Auch das ist ein neues Gefühl. Ohne mich könnte Amélie nicht existieren. Durch Amélie bin ich manchmal irrsinnig stolz. Stolz auf sie, aber auch stolz auf mich. Weil sie meine Tochter ist.

    Mit Simon ist der Sommer gekommen. Endlich. Der Hamburger Frühling hat lange Händchen mit dem Winter gehalten: Noch bis in den späten April streckten die Straßenbäume schwarze, kahle Äste in den schiefergrauen Himmel. Während anderswo schon die Tulpen verblüht waren, kämpften sich bei uns erst Krokusse und Schneeglöckchen durch die winterharte Erde nach oben. Im Mai taten sich Windböen zu Frühlingsstürmen zusammen, die die letzten braunen Herbstblätter, die sich noch in Regenrinnen und Rinnsteinen klumpten, durch die Straßen trieben. Wie ein Großreinemachen, das der Ankunft eines hohen Gastes vorangeht. Aber jetzt ist der Sommer da! Es ist heiß in der Stadt, Türen und Fenster stehen offen. Wir legen morgens die Kissen auf die Gartenbank, und wenn wir vergessen, sie abends wieder ins Haus zu räumen, schadet das gar nichts. Zum Glück hat sich mein Vermieter bisher noch nicht wieder blicken lassen.
    Simon ist fast jeden Tag bei uns, obwohl er das Zimmer in seiner WG behält. »Die Jungs sind auf meine Miete angewiesen.« Die Jungs sind zwei Informatikstudenten, die ich bisher noch nicht kenne und die wie Vampire tagsüber schlafen, um nachts vor dem Computer zu sitzen und dabei wummernde Technomusik zu hören. »Nett, aber ohne Peilung«, lautet Simons Urteil. Kein Wunder, dass er lieber bei mir übernachtet.
    Simon und ich … wir! Wir haben keine Definition für das, was zwischen uns geschieht. Es gibt keinen Plan. Kein Protokoll. Mit einem Mann meines Alters würde ich überlegen, wie es weitergehen soll. Mit einem Mädchen in seinem Alter würde Simon feiern und tanzen gehen. Aber mit mir?
    Eines Nachmittags arbeiten wir im Garten. Lilli und ich träumen mittlerweile nämlich von einem grünen Idyll für unsere Kleinfamilie. »Als Erstes sollte mal dieser alte Baum weg!«, hat Papa empfohlen und auf einen wirklich etwas mickrigen Baum auf dem Grundstück gezeigt. Nicht nur, weil diese Worte bei mir sofort die Erinnerung an Mamas abgeholzten Garten wachriefen, sondern auch aus Trotz habe ich mich dagegen gewehrt. »Der Baum bleibt!« Ich brach ein kleines Zweiglein ab und sah, dass es innen grün und lebendig war. Das Zweiglein zeigte ich dem Mann vom Blumenladen an der Ecke und weiß jetzt, dass mein alter Baum ein Pflaumenbaum ist. »Lassen wir ihm einfach Zeit«, legte ich fest und gieße ihn weiter. Simon hat ein Stück umgegraben und neuen Rasen gesät, der mittlerweile recht dicht sprießt. Gartenpflege bedeutet leider auch, dass wir Unkraut zupfen müssen – besonders aus den Ritzen zwischen den Holzplanken, mit denen Simon eine Terrasse für den Gartentisch angelegt hat. Ich richte mich gerade stöhnend auf und werfe einige Löwenzahnwurzeln in den Abfalleimer, als Simon mit den leeren Gießkannen auf mich zukommt. Das heißt, in einer gluckert es noch. Simon tut so, als wolle er mich begießen, und eine Weile rangeln wir vergnügt, bis er die Gießkannen fallen lässt, mich umarmt und dann heftig küsst.
    »Muss Liebe schön sein!«
    Bei diesem Ausruf fahren wir auseinander. Am Gartentor steht Tina und verdreht die Augen.
    Simon lässt mich los. »Schade!« Mit diesen Worten packt er die Gießkannen, winkt Tina zu und verschwindet in Richtung Gartenschlauch. Ich schlendere zu Tina hinüber.
    Sie fixiert mich, als hätte sie den bösen Blick. Als ich sie erreiche, scheint sich um sie herum eine dunkle Wolke zusammengeballt zu haben, wie bei der Muhme Rumpumpel in dem Kinderbuch Die Kleine Hexe . Aus dieser Wolke tönt es: »Darauf ruht kein Segen! Hatte ich dir nicht geraten, dir lieber etwas Schönes zu kaufen?«
    Ich werfe ihr einen Handkuss zu. »Das habe ich getan.

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