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Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schuetze
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sie meiner verzweifelten Teenagerseele spendeten, während ich mich vergeblich gegen das Unabänderliche stemmte.
    Die Sätze lauteten ungefähr so: »Wir schauen Not, Leid und Schwäche als Teil des Lebens ins Gesicht. Wir wenden uns nicht ab, sondern lassen uns anrühren. Unser Glaube spricht durch Taten. Wir geben weiter, was wir von Gott empfangen.«
    Als meine Mutter starb, war ich nicht bei ihr. Ich war zu Hause, schließlich musste ich am nächsten Tag in die Schule. Meine Eltern hatten vereinbart, unseren Alltag trotz der Krankheit meiner Mutter so wenig wie möglich einzuschränken. Mein Vater arbeitete an jenem Tag. Mama starb in den Armen der grauhaarigen Krankenschwester Ursula, die sie in ihren letzten Monaten pflegte. Schwester Ursula war es auch, die mich tröstete, meine Hand ergriff und mich in einen stillen Raum begleitete. Dort lag meine Mutter klein und schmal auf einem Bett. Sie sah verletzlich und sehr verlassen aus. Schwester Ursula legte ihren Arm um meine Schulter und sagte: »Sie war nicht allein, denn sie wusste, dass du und dein Vater immer bei ihr seid. Und sie war bei Gott.« Sie strich mir über die Haare.
    Ich dachte an die Worte in der Broschüre und wusste: Schwester Ursula hatte sich nicht abgewendet, sie hatte sich Mama zugewendet und ihr mit Gottvertrauen die Angst genommen. Deshalb zahle ich Kirchensteuer. Und wahrscheinlich habe ich auch deswegen Frau Pepovic ihre Bitte nicht abschlagen können.

    Bei einem Mann in meinem Alter hätte ich wohl gezögert, ihn mit meinem jetzigen Leben zu konfrontieren. Wenn ich mir beispielsweise meinen Klassenkameraden Gerd hier vorstelle …
    »Lebst du in einem Kibbuz, einer multikulturellen Wohngemeinschaft oder der Zentrale von Schüler-VZ?«, würde er wahrscheinlich fragen und sich schnellstens aus dem Staub machen.
    Simon findet das ständige Kommen und Gehen nicht störend – weder die anderen Mütter mit ihren Babys noch Davids und Lillis Freunde. Wie beispielsweise Davids besten Freund Oliver, der hartnäckig und freundlich die von Simon mitgebrachten Bierflaschen reduziert. Nicht einmal Tinas süffisante Miene scheint Simon zu irritieren. Er fädelt sich in diesen Alltag ein, und wir finden immer wieder Zeit, allein zu sein.
    Eines Morgens stehe ich wieder einmal in dem als Bastelzimmer geplanten Raum. Noch immer stapeln sich halbleere Kartons. Doch die langen einsamen Winterabende, mit denen ich gerechnet hatte, als ich das Haus anmietete, gibt es in meinem Leben nicht mehr. Die Wochenenden, in denen mir ohne Beschäftigung die Decke auf den Kopf fallen würde. Die Franzi aus der Zeit vor Amélie konnte von der heutigen Franzi nichts ahnen.
    Ich wühle mich durch die Kartons und feiere noch einmal Wiedersehen mit meinem alten Ich. Da sind zum Beispiel die Makramee-Materialien. Die Sammlung aus meiner großen Zeit als Serviettentechnikerin wiederum, die vom Tablett bis zum Blumentopf alles dekorierte, habe ich größtenteils schon auf dem Flohmarkt verkaufen können. Aber es gibt immer noch palettenweise Farbdosen und -tuben, rund zwanzig Pinsel in allen Größen und Stärken nebst Staffelei, Scheren, Knäuel mit Häkel-und Strickwolle sowie die dazugehörigen Sortimente von Nadeln und Stickrahmen.
    Fast bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Diese Dinge haben mir einmal sehr viel bedeutet. Doch heute ist in meinem Leben kein Platz mehr dafür.
    Einmal in der Woche joggen Lilli und ich um den Weiher, während mein Vater mit den Unvermeidlichen die Mädchen hütet. Lilli ist natürlich viel schneller und auch mit mehr Spaß dabei, aber auch ich laufe jetzt schon einmal die ganze Runde, ohne pausieren zu müssen. Insgeheim bin ich jedoch froh, dass unser Indiaca-Kurs verschoben wurde, weil die kleine Sportschule, in der wir uns angemeldet haben, renoviert wird.
    Mein Leben hat sich sehr verändert – und dennoch wäre ich allein nie darauf gekommen, mich von meinen Bastelsachen zu trennen.
    Lilli steckt den Kopf zur Tür herein. »Na, mal wieder beim Aufräumen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fährt sie fort: »Ich wollte dich sowieso mal wegen des Zimmers etwas fragen.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Könnten wir es nicht als Gästezimmer nutzen?«
    »Erwartest du noch mehr Gäste?« Vor meinem inneren Auge verwandelte sich unser kleines Häuschen in eine internationale Jugendherberge: Lillis Freunde aus aller Welt kampieren mit Rucksäcken und Isomatten im Flur, schlagen Feldbetten in meinem Bastelzimmer auf und

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