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Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schuetze
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Vorher!«
    Wieder schüttelt Tina mit Nachdruck den Kopf. Aber dann schneidet sie eine Grimasse und sagt: »Pass einfach nur auf, dass er dir nicht allzu sehr weh tut.«

    In Bezug auf meinen Vater weiß ich nicht, was ihm peinlicher ist: dass ich geschieden bin, Amélie geboren ist, ich einen neuen Freund habe – oder dass dieser Freund soviel jünger ist. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm einiges zumute. Nach einem Schreckmoment hat sich Papa aber erstaunlich schnell für einen brummigen Waffenstillstand entschieden – mit seinem Rollkragen als Demarkationslinie. Maßgeblich beteiligt an dieser Wendung sind die Unvermeidlichen: Sie loben Simon über den grünen Klee, seit er eines Abends bei ihnen als dritter Mann beim Skat eingesprungen ist – an unserem Küchentisch. Der entwickelt sich mittlerweile zum Dreh-und Angelpunkt für den halben Stadtteil. Dabei kann ich durchaus nicht Lilli allein die Verantwortung für den Trubel in unseren vier Wänden in die Schuhe schieben. Ich trage selbst kräftig dazu bei.
    Samstags morgens beispielsweise sitzen die vierzehnjährige Lucia und ihre zwei Jahre älteren Zwillingsbrüder Drago und Emir am Küchentisch. Mit Nachnamen heißen alle Pepovic und gehören zu der vom Vermieter Pröllke geschmähten Familie im Vorderhaus. Ich bin mit ihrer Mutter an den Mülltonnen ins Gespräch gekommen, und sie hat mich irgendwann mit den beiden Jüngsten der Familie, dem fünfjährigen Dragan und der siebenjährigen Ana, besucht und gefragt, ob ich den Großen nicht ein wenig bei den Hausaufgaben helfen kann. Alle drei sollen den Hauptschulabschluss machen. Das heißt, Lucia würde bestimmt auch die Realschule schaffen. Sie ist übrigens bei dem Bruder von Sophie – der Frau, die für Lilli die Wickie-Wickelkommode gebaut hat – im Konfirmandenunterricht. Und der saß auch schon bei uns am Küchentisch. Diesmal allerdings nicht auf eine Einladung von Lilli – sondern weil er mich gesucht hat. Eines Abends steht er einfach vor der Tür. »Neuzugänge in der Gemeinde bekommen sonst nur einen Brief«, erklärt er mir, als ich ihm die Tür öffne. Er hält wie zum Beweis einen Umschlag hoch. »Aber da ich selbst direkt um die Ecke wohne, habe ich heute einfach das Porto gespart und mein Glück versucht.«
    Am Ende des Abends weiß ich, dass Familie Pepovic erst vor wenigen Jahren aus Bosnien nach Hamburg gekommen ist und dass es damals um Leben oder Tod ging. Frau Pepovic mag nicht darüber reden. Sie leidet sehr darunter, dass sie noch nicht besonders gut Deutsch spricht – und an etwas sehr Dunklem und Schrecklichem aus ihrer Vergangenheit, worüber Pastor Brenner aber nur Andeutungen macht. Stattdessen erfahre ich von ihm viel mehr über den Seniorenmittagstisch, als Papa mir jemals erzählen würde – vor allem wie sehr man meinen Vater dort schätzt. Und wir haben Amélies Taufe im nächsten Jahr besprochen. »Schatz, das ist krass!«, entfährt es Lilli, als ich ihr davon erzähle. »Glaubst du etwa an Gott?«
    »Irgendwie schon. Besonders jetzt, wo die Kinder da sind. Du nicht?«
    Lilli legt den Kopf schief. »Nö. Ich glaube nur an Elvis. – Was ist das mit dem Begrüßungsbrief? Wie ist er eigentlich auf dich gekommen?«
    »Ich zahle Kirchensteuer – und ein Umzug wird an die zuständige Gemeinde weitergeleitet.«
    Lilli ist entsetzt. »Warum zahlst du denn noch Kirchensteuer?«
    Lilli zahlt grundsätzlich nichts. Das betreibt sie quasi als Sport: keine Fernsehgebühren, keine Versicherung, keine Monatskarten. Sie kommt damit erstaunlich gut über die Runden und wird auch nie erwischt. Bei mir ist es genau umgekehrt. Ich zahle alles, und ich werde in der U-Bahn mindestens zweimal im Monat kontrolliert. Unnötig zu sagen, dass ich natürlich immer meine Monatskarte dabeihabe. Lilli dagegen fährt schwarz und ist, jedenfalls seit wir uns kennen, noch nie kontrolliert worden. Jetzt fragt sie wieder: »Wenn du zahlst, heißt das doch, dass du in der Kirche bist. Warum bloß?«
    Ich zucke die Achseln. »Keine Ahnung.« Dabei weiß ich es sehr genau. Aber manche Dinge kann ich selbst Lilli nicht erklären.
    Meine Mutter ist in einem Diakonie-Krankenhaus gestorben. In den Tagen, als diese kleine, zarte Person in ihrem Krankenbett lag, habe ich aus purer Verzweiflung immer wieder dieselben Sätze gelesen – ich fand sie in einer Broschüre, die auf ihrem Nachttisch lag. Ich erinnere mich nicht mehr an jedes Wort, aber ich habe den Trost nicht vergessen, den

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