Kleine Schiffe
Was soll denn schon passieren?«
»Du hast den doch heute Morgen erlebt! Was, wenn er dir Amélie wegnimmt und nach Dänemark abhaut?«
»Das würde Andreas nie machen.«
»Wieso bist du da so sicher? Dass er randaliert und gegen Autos tritt, hast du auch nicht für möglich gehalten, oder? Wie gut kennst du deinen Ex?«
Ich schweige und sehe wieder vor mir, wie Rumpelstilzchen Andreas im Hof herumspringt. »Aber reden sollten wir schon, findest du nicht auch?«
Lilli nickt. »Natürlich, aber musst du Amélie mitnehmen? Ich kann auf sie aufpassen.«
»Aber du wolltest doch heute Abend ausgehen. Ich bin mit Babysitting dran.« Und eigentlich wollte ich diesen Abend mit Simon verbringen. Wenn die Kinder eingeschlafen sind, hat man immer viel Zeit.
»Aber wir gehen erst um zehn los. Wir wollen doch feiern! Vor Mitternacht läuft da nichts.«
Um halb sieben stehe ich in meinem Zimmer vor dem Kleiderschrank. Was zieht man an, wenn man mit dem Ex-Mann verabredet ist? Ich entscheide mich für eine schlichte schwarze Hose, einen schwarzen Rollkragenpullover und das leuchtend grüne Tuch, das mein Vater mir zur Geburt von Amélie geschenkt hat. Ich schminke mich sorgfältig. Ich bin schließlich nicht die verhuschte Mama, als die ich mich heute Morgen ungekämmt und im Pyjama präsentiert habe.
»Très chic, Schatzö!«, sagt Lilli mit gespieltem französischem Akzent, als ich vor ihr stehe. Dann runzelt sie die Stirn. »Aber da fehlt noch etwas. Warte mal …« Sie holt einen Lippenstift aus ihrer Handtasche. »Dieses dunkle Rot passt zum grünen Tuch. Probier mal, das ist mein Lieblingslippenstift!«
Der Lippenstift schmeckt nach süßer Pflaume, ein richtiger Lilli-Mädchen-Geschmack, der mich tröstet und ermutigt.
»Steck ihn ein und gib ihn mir morgen wieder«, sagt Lilli und stopft ihn in meine Manteltasche. »Denk dran, das ist mein Lieblingslippenstift.«
Selbst wenn mir diese Farbe überhaupt nicht stehen würde, würde ich ihn mitnehmen, weil mich Lillis Fürsorge rührt.
Die Kinder sitzen in Erwartung des Abendbrots bereits in ihren Hochstühlchen.
»Bist du sicher, dass du allein zurechtkommst?«
Lilli nickt. »Du hast doch nicht vor, mit ihm durchzubrennen und erst zurückzukommen, wenn die Kinder schulpflichtig sind, oder?« Sie sieht auf die Uhr. »Es ist gleich sieben, du solltest los. Ich bin um zehn mit den Mädels verabredet.«
Die Mädels – das ist der Sammelname für eine in ihrer Zusammensetzung häufig wechselnde Gruppe von Freundinnen, die Lilli wie Satelliten umschwärmen. Dazu gehören zeitweilig sogar einige der »richtigen« Mütter – jedenfalls die jüngeren unter ihnen, einige Kundinnen von Lilli, die sie aus ihrer Zeit im Friseurladen »Hairfriend« kennt, ehemalige Kolleginnen, Freundinnen aus Davids Schule und Frauen wie ich, die sie zwischendurch kennengelernt hat – auf dem Markt, im Schwimmbad, im Schuhgeschäft.
»Bis dahin bin ich längst wieder da«, versichere ich ihr und schlinge das Tuch um den Hals.
»Nun mach schon!« Lilli schiebt mich zur Tür hinaus. »Lass dir nichts gefallen. Hast du dein Handy mit?«
Ich muss über ihren mütterlichen Ton lachen. »Ja, und das Pfefferspray auch!«
Lilli presst die Lippen zusammen und sagt in ihrem besten Berlinerisch: »Ick will dir mal wat sagen, junge Dame. Ick hab schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen!« Was so viel heißt wie: »Du glaubst vielleicht, diesen Andreas zu kennen. Aber wundere dich nicht, wenn sich der Typ als Frankenstein entpuppt.«
Mit diesem Segen gehe ich durch den Abend über die Osterstraße zum »Lál Pera«. Dabei begegnen mir viele kleine unheimlich verkleidete Gestalten mit weißgeschminkten Gesichtern oder Totenkopfmasken. Manche tragen Hexennasen und Teufelshörnchen, andere grüne Perücken und dunkle Capes. Sie schleppen prallgefüllte Plastiktüten.
Andreas ist schon da. Er sitzt vorn rechts auf einem der hohen Holzstühle, von dem er herunterrutscht, als er mich sieht. Er nimmt die Situation in die Hand, indem er sich vorbeugt und mir einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange drückt.
Bevor er etwas sagen kann, frage ich: »Wollen wir nicht lieber da drüben sitzen?« Ich zeige auf ein tiefes Sofa direkt vor dem Fenster.
Andreas zuckt mit den Achseln. »Wenn du möchtest!« Er nimmt seine Jacke vom Stuhl und folgt mir.
»Was trinkst du?«, frage ich und werfe meinen Mantel auf das Sofa. »Hier bestellt man am Tresen.«
»Das wusste ich nicht.« Andreas’ Stimme klingt
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