Kleine Suenden zum Dessert
könnten Sie gar nicht fahren!«
Julia hob entmutigt die Hände. »Dann sind wir alle verloren!«
Martine nickte mit hochroten Wangen. »Genau! Und darum kämpfen wir für die Abschaffung der Atomkraft, Julia!«
»Entführen wir einfach den Star des Festivals und sagen, dass wir ihn erst freilassen, wenn der MOX-Transport gestoppt ist«, bettelte Julia in der Hoffnung, doch noch eine spektakuläre Aktion mittragen zu dürfen.
»Oh! Sie haben mit Adam geredet.«
»Er hat Recht, finde ich. Wir sollten wirklich ein bisschen radikaler vorgehen.«
»Ich bin die Leiterin dieser Gruppe«, erklärte Martine, »und wir werden die Sache auf meine Weise durchziehen. Wie können wir erwarten, ernst genommen zu werden, wenn wir uns nicht an die Gesetze halten?«
»Sie haben wahrscheinlich Recht«, sagte Julia halbherzig.
Martine war manchmal ernster, als ihr gut tat.
»Ich glaube, er hetzt auch Joey gegen mich auf«, vermutete Martine finster.
„Kann schon sein. Jetzt erzählen Sie mir, welche inneren Verletzungen ich erleiden würde, wenn ich mich eine halbe Meile von der Explosion entfernt aufhielte.« Das Thema faszinierte sie.
Aber Martine gähnte. »Ich gehe ins Bett, Julia - und das sollten Sie auch tun. Ich habe Grace versprochen, Sie nicht zu lange wach zu halten.«
»Es muss nicht alles nach Graces Willen gehen«, protestierte Julia, doch sie sagte es nur leise. Wenn Grace nicht wäre, befände sie sich jetzt vielleicht unter Gillians Fuchtel. Und es war ja nicht so, dass Grace ihr keine Luft zum Atmen ließ. Nein, Grace praktizierte ein gesundes Mittelmaß aus Beschränkungen und Freiheiten - und was die Freiheiten betraf, bestand eine unausgesprochene Einigkeit zwischen ihnen. Ihre Freizeit gehörte ihnen allein, und keine von beiden verlangte von der anderen Rechenschaft darüber.
In dieser Hinsicht war es beinahe eine neutrale Beziehung wie zwischen Patientin und Pflegerin, dachte Julia, und das war ihr durchaus genehm.
»Soll ich Ihnen die Treppe raufhelfen?«, fragte Martine.
»Nein, nein, das kann ich schon allein.« Sie brauchte zwar noch immer eine Krücke, doch sie wollte Martine nicht sehen lassen, wie gehandikapt sie war - sonst ließe sie sie vielleicht am Samstag nicht mit.
»Wenigstens haben Sie am Montag wieder Ruhe«, sagte Martine.
»Warum? Was passiert am Montag?«
»Na, da reisen wir doch ab.«
Julia war regelrecht geschockt, obwohl sie es nicht verstand. Sie hatte ja nicht angenommen, dass die jungen Leute für immer bei ihr bleiben würden. Sie hatte nur nicht erwartet, dass sie so bald gehen würden, das war alles.
»Ihr werdet nach dem Festival doch völlig erschöpft sein«, versuchte sie einen Aufschub zu erreichen. »Warum bleibt ihr nicht noch ein paar Tage und erholt euch?«
»Können wir nicht. Wir fliegen nach Wales, um den MOX-Transport zu empfangen. Alle Umweltgruppen fliegen dahin - es wird eine Riesendemo.« Sie küsste Julia auf die Wange. »Gute Nacht, Julia - und danke für alles.« Es war fast, als verabschiede sie sich schon jetzt. Julia saß noch lange, nachdem das Mädchen zu dem Zelt am Ende des Gartens gegangen war, in JJs altem, rotem Lehnsessel. Irgendwie hatte der Tag seinen Glanz verloren, und ihr war auch wieder kalt. Aber sie müsste in den Schuppen hinaus, um die Heizung einzuschalten, allein in die Dunkelheit.
Das Telefon klingelte. Es klang ohrenbetäubend schrill in dem stillen Haus. Wer konnte das sein um zehn nach ein Uhr nachts?
Sie nahm den Hörer ab. »Hallo?« Keine Antwort.
»Hallo?«, fragte sie noch einmal.
Plötzlich atmete jemand, laut und schwer und stoßweise und, wie ihr schien, bösartig.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und so knallte sie den Hörer auf und starrte mit vor Aufregung trockenem Mund auf den Apparat hinunter. Es war unheimlich, als wäre jemand bei ihr im Haus.
Was natürlich auch so war. Grace schlief oben, Charlie und ihr Sohn Gavin und Adam. Und im Garten unten Martine. Sie hatte weiß Gott genügend Menschen zu ihrem Schutz um sich.
Aber am Montag würden sie weg sein. Alle. Auch Grace. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Sie versuchte, ihn hinunterzuschlucken, doch es ging nicht. Die Wände schienen auf sie zuzukommen. Nichts wie raus hier!, dachte sie. Aber dann atmete sie tief durch. Es war lächerlich, sich vor dem eigenen Wohnzimmer zu fürchten. Vor ihrem eigenen Haus. Sie würde gut zurechtkommen. Bestens. Sie hatte schließlich zwei Jahre allein gelebt. Es bestand kein Anlass, zu glauben,
Weitere Kostenlose Bücher