Kleine Suenden zum Dessert
gleichen Wohnungen vermietete, eine Situation, die sie, wie sie oft düster prophezeite, irgendwann in den Wahnsinn treiben würde.
Grace lachte. »Ich wusste nicht, dass ich mich in einer so beneidenswerten Position befinde.«
Natalie schob eine Gabel gebratene Nudeln in der Mund. Sie hatte diese Schwangerschaft mit noch beträchtlichem Übergewicht von der letzten begonnen, ließ sich davon aber nicht den Appetit verderben. »Ich denke oft, dass wir anderen bescheuert sind«, sagte sie. »Wir verschwenden den größten Teil unserer Zwanziger an die verdammte Firma, sehen die großen Beförderungen aber an uns vorüberziehen, weil wir entweder Kinder kriegen oder es vorhaben.« Sie beugte sich vor. »Stell dir vor: Im Hauptbüro vermuteten sie schon, dass Orla schwanger war, bevor sie es selbst wusste!«
»Aber nur, weil Mark nach der Weihnachtsfeier so herumschwadroniert hatte«, sagte Grace.
»Was ich meine, ist: Sie schreiben uns im Geist ab«, nahm Natalie ihren Faden wieder auf. »Sieh mich an! Seit vier Jahren fahre ich jetzt im Schongang und mache diese stupiden Vermietungen. Deine Kinder dagegen sind bereits groß, und du kannst dir dein Leben einteilen, wie du willst. Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren!«
Sie nahm sich die letzte Frühlingsrolle, ohne Grace zu fragen, ob sie sie vielleicht wolle.
»Denkst du, ich habe das so geplant?«, fragte Grace spöttisch. »Denkst du, ich habe mich mit Anfang zwanzig hingesetzt und mir eine Liste gemacht, auf der ich dann Funkt für Funkt abhakte?«
»Man könnt es meinen«, erwiderte Natalie heftig. »Und ich hatte die Nase voll und trampte mit dem Rucksack durch Europa.«
»Genau!«, rief Grace. »Und ich beneidete dich!«
»Du kanntest mich damals doch gar nicht.«
»Aber ich kannte Leute wie dich. Hunderte.« Das klang ein wenig beleidigend, und so setzte sie hastig hinzu: »Ich saß zu Hause mit Zwillingen fest, während ihr euch alles erlauben konntet.«
Sie hatte Reisen und übermäßiges Trinken gemeint, doch Natalies Miene verfinsterte sich bedrohlich. »Sie sind nicht von Dauer, die Vergnügungen der Zwanziger, weißt du. Sie bleiben einem nicht. Zumindest hofft man das«, ergänzte sie sarkastisch.
»Es hat sich einfach so ergeben«, sagte Grace lahm. Kaum waren die Abschlussprüfungen geschafft, hatte sich der Großteil ihrer Freunde in alle vier Winde zerstreut. Sie hatten ihr Glück in London, New York und Australien gesucht - überall, nur nicht in der Stadt, in der sie vier Jahre mit staatlicher Beihilfe in schäbigen Apartments gehaust hatten. Und wer hätte es ihnen verübeln können? Sie war aus freien Stücken dageblieben. Die Sache mit Ewan war sehr ernst. (Warum war ihr nicht klar gewesen, dass er, wenn es ihm wirklich so ernst war, auf sie gewartet hätte? Hatte sie gefürchtet, die Entfernung würde die Glut abkühlen? Oder die neuen Erfahrungen würden sie beide verändern?) Natürlich war die Situation damals ganz anders gewesen.
Jobs waren Mangelware, und Ewan gehörte zu den wenigen Glücklichen: Er war Texter bei einer Werbeagentur. Ein Traumjob in den trostlosen späten Achtzigern. Wie hätte sie von ihm verlangen können, den aufzugeben und mit ihr in London von Arbeitslosenunterstützung zu leben oder in Los Angeles (wo es gar keine Arbeitslosenunterstützung gab)?
Sie bereute nicht, ihn geheiratet zu haben, und sie bereute ganz sicher nicht, ihre beiden Söhne bekommen zu haben und woher sollte sie wissen, ob sie glücklicher wäre, wenn sie gewartet hätte wie Natalie, und »das ganze Programm« jetzt vor ihr läge?
Aber was war aus dem unbekümmerten jungen Mädchen mit dem schwarzweiß gestreiften Halstuch geworden, das ihm einen verwegenen Anstrich verlieh? War es auf Nimmerwiedersehen verschwunden, begraben unter Verantwortung und Verpflichtungen?
»Vielleicht bedauere ich es ja«, dachte sie laut. »Vielleicht wünsche ich mir, dass ich nicht so jung geheiratet hätte! Vielleicht wünsche ich mir, ich hätte meine Zwanziger für mich gehabt!«
»Sei froh, dass der Zug abgefahren ist«, erwiderte Natalie entschieden. »Singles in den Zwanzigern haben nur Blödsinn im Kopf. Du hast die Basisarbeit erledigt und kannst dich entspannt zurücklehnen und genießen.«
»Genießen? Was?«, wollte Grace wissen.
»Zeit für dich zu haben.«
»Um was zu tun?«
Natalie zuckte mit den Schultern. Wenn Grace das nicht wusste ...
»Nun, da ist natürlich mein Beruf«, sagte Grace hastig. Sie wollte nicht, dass ihre Freundin
Weitere Kostenlose Bücher