Kleine Suenden zum Dessert
dächte, sie halte ihr Leben für gänzlich vergeudet.
»Es heißt, dass sie mit dem Gedanken spielen, hier ein Zweigbüro einzurichten«, vertraute Natalie ihr an. »Wenn ich du wäre, würde ich mein Interesse schleunigst anmelden.«
Grace lächelte schwach. Die Vorstellung, das Zweigbüro zu leiten, erfüllte sie mit Grauen. Der einzige Grund dafür, dass sie den Job nicht schon längst an den Nagel gehängt hatte, war ihre Freude daran, im Außendienst ständig neue Menschen kennen zu lernen.
»Du könntest auch Kurse belegen«, meinte Natalie. »Ich fände es herrlich, Zeit für so was zu haben. Schauspielerei zum Beispiel. Oder Kunst.«
»Vielleicht«, sagte Grace ohne Überzeugung.
»Informier dich zumindest mal«, drängte Natalie sie. »Wo du doch jetzt so viel Zeit hast.«
»Das werde ich«, versprach Grace. Einen Malkurs zu machen hatte in ihrem Alter einen üblen Beigeschmack: Als sei einem alles recht, was einen davor bewahrte, sich mit sich selbst zu befassen. Oder mit dem bevorstehenden Tod.
Die Haustür wurde leise geöffnet und geschlossen. Adam so hieß ihr Logiergast, wie sie inzwischen erfahren hatte war vor einer Ewigkeit in die Stadt gegangen.
»Ich muss los«, sagte Natalie seufzend. »Rosie schläft nur ein, wenn ich zu Hause bin. Kein Wunder! Weißt du noch, wie ich dir erzählte, dass Paul so tat, als sei er ein Monster, als ich das letzte Mal abends weg war? Und morgen habe ich in aller Herrgottsfrühe einen Termin im Krankenhaus. Sie glauben, dass das Baby falsch liegt, und wollen versuchen, es zu drehen. Sonst muss es mit Kaiserschnitt geholt werden.«
Im Vergleich dazu klang ein Malkurs wie ein Osterspaziergang, und Grace fragte sich, ob sie vielleicht zu anspruchsvoll war. Alles in allem war ihr Leben nach den geltenden Maßstäben vollkommen befriedigend. Es war albern, sich plötzlich an einem gestreiften Halstuch und einer Cafe-Verwechslung hochzuziehen, die fünfzehn Jahre zurück lag.
»Hältst du die Stellung noch einen Moment?«, bat sie Natalie.
Sie hatte ihre Tasche oben in einem der Gästezimmer deponiert, um niemanden - genau gesagt, Adam - in Versuchung zu führen, indem sie sie herumliegen ließ. Jetzt nahm sie ihr Handy und den Zettel von Frank heraus und tippte die Nummer von Michael Carr ein. Grace hatte ihren Text gut vorbereitet: Sie würde sagen, wie Leid es ihr tue, die Verletzung seiner Mutter verursacht zu haben, und dass sie bereit sei, für die Krankenhauskosten aufzukommen, und sie sich regelmäßig nach Mrs Carrs Befinden erkundigen werde. Sie hoffte, dies würde zu einem Gespräch über Pläne bezüglich ihrer Genesung führen und darüber, wer sich um sie kümmerte. (Nun ja, Grace hatte selbst auch Pläne, und die Jungs würden wissen wollen, wann sie endlich nachkäme.)
»Hallo?«, meldete sich eine mürrische Mädchenstimme.
»Hallo. Bin ich mit dem Anschluss von Michael Carr verbunden?«
»Ja. Ich bin Susan. Dad kann gerade nicht ans Telefon kommen«, erklärte sie. »Mom hat einen Erstickungsanfall.«
»Oh, mein Gott!«, erschrak Grace. »Soll ich die Leitung frei machen, damit du den Notarzt anrufen kannst?«
»Nein, nein. Es wird schon wieder. Sie meint, dass sich der Krautsalat vielleicht nicht mit dem Schellfisch vertragen hat. Dad!«, rief sie in den Raum. »Telefon!«
Grace hatte ihre ganze schöne Rede vergessen, und so sagte sie hastig: »Er muss nicht an den Apparat kommen. Ich wollte eigentlich nur wissen, wie es Mrs Carr geht.«
»Sie wird nicht sterben«, erklärte Susan lapidar.
»Wunderbar!« Graces Selbstvertrauen wuchs. »Du fragst dich wahrscheinlich, wer ich bin. Also ...«
»Dad sagt, wenn er die Frau erwischt, die meiner Grandma das angetan hat, bringt er sie um«, eröffnete Susan ihr in sensationslüsternem Ton. »Mit bloßen Händen! Aber Mum sagt, es sei ein verkappter Segen gewesen, denn ohne diese Schießerei hätten wir nicht erfahren, wie verrückt Grandma ist, und dann wäre irgendwann was ganz Schlimmes passiert. Die Großmutter von meiner Freundin Kate fing eines Tages an, Gras und so Zeugs zu essen.«
»Tatsächlich«, brachte Grace mühsam hervor. »Was die Schießerei angeht - es war ein Unfall, weißt du ...«
»Dad sagt, er wird versuchen, die Frau zu verklagen. Er ist stinkwütend. Dad!«, schrie sie. »Kommst du ans Telefon oder nicht?«
»Lass es gut sein«, sagte Grace schnell. »Ich werde Mrs Carr einfach morgen im Krankenhaus besuchen.«
»Okay. Man darf nachmittags zwischen zwei und vier
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