Kleine Suenden zum Dessert
genug gekommen, um festzustellen, wie ihrer roch, und hatte es auch nicht vor. Martine hatte ihre Haare seit Weihnachten nicht gewaschen, denn sie vertrat die Ansicht, dass Haare, die man in Ruhe ließ, sich selbst reinigten. Ihr Zustand bestätigte diese Theorie allerdings nicht.
Grace verbannte Martine aus ihren Gedanken. »Gehen wir nach oben«, sagte sie.
»Die Bullen sind wieder da«, zischte Julia.
Sie stand im Schuppen und sah durch das winzige Fenster auf der anderen Straßenseite einen Streifenwagen anhalten.
Zwei uniformierte Polizisten starrten zu den jungen Leuten herüber, die vor dem Haus auf dem Rasen saßen. Martine runzelte die Stirn. »Wir nennen sie nicht ›Bullen‹, Julia. Das mögen sie nicht.«
Sie waren so korrekt, diese Atomkraftgegner. Julia schaute genauer hin.
»Es sind zwei neue!«, verkündete sie aufgeregt. Für gewöhnlich kamen Sergeant Daly und der Grünschnabel Paul OToole von der Garda. Sie parkten immer im Schatten der großen Ulme, und irgendwann brachte Julia ihnen Tee und einen Teller mit Feigenbrötchen. Sie protestierten zwar jedes Mal, sie seien im Dienst und dürften es nicht annehmen, doch sie ließ ihnen das Tablett trotzdem da. Aber zwei Polizisten von auswärts? Und nach achtzehn Uhr?
»Feldstecher!«, rief sie. »Einer von ihnen hat einen Feldstecher - und er richtet ihn aufs Haus!« Martine schaute nicht einmal auf. Sie war offenbar an Belästigungen durch die Polizei gewöhnt und bemalte ungerührt weiter das Transparent in großen, roten Buchstaben mit dem Wort MOX. Julia hatte bereits das Bild eines Totenschädels darauf gebügelt.
»Ich weiß überhaupt nicht, was die hier wollen«, sagte Martine verstimmt. »Wir sind eine friedliche Organisation.«
»Zumindest bis Samstag«, schränkte Julia genussvoll ein. In ihrer Phantasie sah sie Sondereinsatztruppen der Polizei und Schlagstockangriffe und junge Leute, die sich an Absperrungen ketteten und »We Shall Overcome!« sangen.
»Ich hab‘s Ihnen doch schon gesagt.« Martine seufzte. »Wir werden bei dem Festival keinen Ärger provozieren. Wir wollen nur deutlich machen, was wir von Atomreaktoren halten.« Mit einer verachtungsvollen Kopfbewegung in Richtung der Polizei fuhr sie fort: »Sie haben nicht den geringsten Grund für diese ... diese Spioniererei. Es ist wirklich die Höhe! Eine Missachtung unseres Grundrechts, in einer demokratischen Gesellschaft friedlich zu demonstrieren .«
»Ja, ja«, sagte Julia. Martine konnte sich sehr ereifern, wenn es um ihre Rechte ging. Auch die anderen da draußen auf dem Rasen schienen bestens über ihre Rechte Bescheid zu wissen und darüber, was sie vom Gesetz her durften und was nicht. Was ja sehr lobenswert war, dachte sie hastig. Sie hätte nur gern ein wenig mehr Action gehabt. Wie bei den Demonstrationen in den Sechzigern. Freie Liebe! Weg mit der Bombe! Die wussten damals, wie man Unruhe stiftet, und sie scherten sich den Teufel um das Gesetz. Die Musikfestivals waren früher auch ganz anders gewesen, dachte sie. Woodstock, zum Beispiel. Das war ein richtiges Musikfestival gewesen, mit massenweise Alkohol und verbotenen Substanzen und schlechtem Essen. Nicht wie heutzutage, wo sie Fünfsternetoiletten hatten und Hochglanzprogramme und Imbisswagen chinesisches Essen verkauften, wie sie gehört hatte.
Aber wenigstens würde es schmutzig werden. Das hatte Martine ihr versprochen. Richtig schmutzig. Fünfzigtausend Menschen, die zwei Tage auf einem Hügel herumtrampelten, produzierten zwangsläufig Massen von Schmutz. Aber es würde warmes Essen geben und Bücher zum Lesen, falls Langeweile aufkäme. Einer von ihnen würde sogar eine Kaffeemaschine mitbringen!
Wie auch immer. Das Wichtigste war, dass sie sie einbezogen. Sie war ein Mitglied der Truppe, ein wichtiges Mitglied - keine alte Schachtel mit einem lahmen Fuß, die allen nur auf die Nerven fiel.
Martine hatte ihr Kunstwerk zu Ende gebracht und hielt das Transparent stolz hoch: »Wie finden Sie‘s?«
»Phantastisch!«, lobte Julia und dachte, dass es noch viel phantastischer wäre, das Ding während der Festivaleröffnung anzuzünden. Doch offenbar waren Feuer aus der Mode. Ebenso wie faule Eier, matschiges Obst und die Entführung eines Imbisswagens. (Wenn sich damals zu ihrer Zeit eine Gruppe als »friedlich« bezeichnete, hieß das gar nichts.)
In Wahrheit fand sie das Transparent ein wenig amateurhaft. Jedenfalls war es nicht mit den wunderbaren Plakaten zu vergleichen, die Adam mitgebracht
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