Kleine Suenden zum Dessert
dir.«
»Nein.« So würde Ewan nie zu einer Verschnaufpause kommen. »Entweder geht ihr beide, oder es geht keiner.«
»Dann kann ich nicht hin, weil er nicht hinwill?«, fuhr Neil auf. »Das ist nicht fair!«
»Was hast du für ein Problem, Jamie?«, fragte Ewan.
»Er ist ein Weichei und hat Angst vor kaltem Wasser«, höhnte Neil.
»Stimmt gar nicht!«
»Oder vor Höhe oder so was. Oooooh, Angie, ich bin zu hoch oben! Ich mache mir gleich in die Hosen!«
»Halts Maul!«
»Hört sofort auf, ihr zwei!« Ewan warf Neil einen, wie er hoffte, einschüchternden Blick zu und wandte sich wieder an Jamie. »Stimmt das? Hast du vor irgendwas Angst?«
Er bemühte sich, mitfühlend zu klingen, aber es entsprang keiner Überzeugung. Grace hatte den Jungen ruiniert. Seit seiner Geburt hatte sie ihn verhätschelt, als sei er zerbrechlich. Und was war aus ihm geworden? Ein Feigling. Kein Vergleich mit Neil.
»Nein.« Jamie schlang fest die Arme um sich.
Wieder spürte Ewan Ärger in sich aufsteigen. Wenn er nicht einmal sagen wollte, was los war ... »Dann trink aus, okay? Angie wartet um zwei am Pool.« Sie hätten vor dem Schwimmen nicht so viel essen sollen, fiel Ewan verspätet ein. Na ja - Angie würde es bald mit ihnen abtrainiert haben. Sie hatte einen geradezu beängstigend tüchtigen Eindruck gemacht, als er sich gestern Abend in der Hotelhalle mit ihr getroffen hatte, um für die verbleibende Ferienzeit tägliche Unterrichtsstunden zu vereinbaren. All seine Bedenken wurden von ihr mit einem »Kein Problem, Sir« oder »Machen Sie sich keine Gedanken, Sir« oder »Ich kümmere mich darum, Sir« zerstreut. Es hatte ihm sehr gefallen, dass Angie bereit war, jedwedes Problem eigenständig zu lösen.
Neil sprang auf. »Gehen wir!«
»Ähh ... ich komme nicht mit«, sagte Ewan und fühlte sich schrecklich dabei, obwohl dazu nicht der geringste Anlass bestand. Er hatte sich schließlich nahezu einen Monat lang ganz allein um die beiden gekümmert, und außerdem würde das Wasserspringen ihnen viel Spaß machen. Immerhin waren es auch seine Ferien, und er sollte sich keine Gewissensbisse machen, weil er ein paar Nachmittage für sich haben wollte.
Doch er hatte Grace nichts von seinem Arrangement erzählt. Weil er sicher war, dass sie mit vorwurfsvollem Schweigen reagiert hätte. Sie, die diesen Mammuturlaub organisiert hatte und dann desertiert war! Sie ahnte nicht einmal, wie er sich hier, ganz auf sich allein gestellt, fühlte. Er hatte am Telefon nicht jammern wollen, damit sie sich keine Vorwürfe machte, und so wusste sie nichts von der Nacht, in der die Jungs aus Versehen den Feueralarm im Hotel ausgelöst hatten, oder von dem Wolkenbruch, durch den sie vier Stunden im Geisterhaus festsaßen, oder von dem Tag, als Jamie in einem Laden verloren ging. Er hatte auch nicht über die Menschenmassen geklagt oder die erbarmungslose Hitze oder den seltsamen, fauligen Geruch in ihrem Zimmer oder die Tatsache, dass er seit drei Wochen ohne Sex lebte! Und jetzt konnte er sich nicht ein paar freie Nachmittage genehmigen, ohne beschuldigt zu werden, ein gefühl-und verantwortungsloser Vater zu sein? Das war zu viel!
Seine Brillengläser begannen anzulaufen. Er machte sich bewusst, dass ihn in Wirklichkeit niemand beschuldigt hatte. Es war seine Paranoia, die sich im Laufe von Jahren, in denen er die Zielscheibe von Graces »Blicken« war, entwickelt hatte, die ihm ein Bein stellte. Irgendwann würde er aufbegehren, beschloss er. Die andere Möglichkeit wäre natürlich, die Blicke weiterhin scheinbar zu ignorieren. Das erforderte weniger Kraft.
»Wir treffen uns dann nachher wieder hier«, sagte er. Jamie schaute ihn über den Tisch hinweg an, der personifizierte Widerstand.
»Du meine Güte, Jamie - Angie wird dich schon nicht ertrinken lassen«, versuchte Ewan sowohl Jamie als auch sich selbst zu beruhigen. »Versuchs doch einfach mal, okay?«
Um jeden weiteren Einwand abzuwürgen, reichte er die bereits gepackte Tasche mit den Schwimmsachen hinüber. Neil nahm sie und steuerte, ohne sich noch einmal umzusehen, auf den Ausgang zu. Jamie schlurfte leicht vorgebeugt hinter ihm her. Er ging schon seit einigen Tagen so gebückt. Vielleicht hatte das Kind Bauchweh. Es wäre nicht verwunderlich bei all dem fetttriefenden Essen, dachte Ewan.
Endlich saß er allein an dem Tisch in dem riesigen, roten Diner. Er atmete tief durch und entspannte sich zum ersten Mal seit Tagen. Die chromblitzende Musicbox spielte »Stupid
Weitere Kostenlose Bücher